November 2003
Seelsorge gehört Dank kirchlichen Engagements in der Stadt Köln noch zum selbstverständlichen Angebot für Menschen in Lebenskrisen, so auch in der Rheinischen Landesklinik Köln-Merheim, einem psychiatrischen Krankenhaus. Seelsorge ist hier durch staatliche Rechtsverordnungen und durch spezifische Vereinbarungen zwischen dem Erzbistum Köln und dem Landschaftsverband Rheinland institutionell verankert.
Als Pfarrer bin ich formalrechtlich Mitarbeiter in der Klinik, nicht aber Mitarbeiter der Klinik: Ich gehöre dazu, komme aber dennoch von außen! Für meine Arbeit bedeutet dies inhaltlich, dass ich die Freiheit habe, die Patienten zunächst einmal nicht durch die therapeutisch-klinische Brille sehen zu müssen. Hierdurch wird eine gleichrangige Subjekt-Subjekt- Begegnung eher möglich, weil ich eben nicht zum therapeutischen Team gehöre. Somit begegnet mir im Patienten der Klinik zunächst einmal ein Mensch, so wie er gerade in der Welt ist: entzückt, verrückt, traurig, verschlossen, aufgedreht.
Michael Klessmann spricht in diesem Zusammenhang von einer gewollten naiven Position der Seelsorge, die bestimmte Vor- und Nachteile hat: „Die Vorteile liegen darin, dass der Seelsorger Normalität in eine Begegnung hineinbringt, eben weil er/sie erst einmal ohne den klinisch- diagnostischen Blick kommt. Patienten wissen dies zu schätzen: Da ist einer, der will und soll nicht diagnostizieren und therapieren, der kann nicht eine Erhöhung der Medikation veranlassen, wenn man ihm etwas erzählt, der kommt vielmehr „einfach so“, um zu begegnen, um ein Gespräch ohne besondere Absicht zu führen, um bei der Bewältigung dieser schwierigen Lebenssituation behilflich zu sein. [vgl. M. Klessmann, Seelsorge in der Psychiatrie – eine andere Sicht vom Menschen? WzM, 48. Jg. (1996), 25 – 28?, bes. 26].
Diese Rolle des „Von-außen-kommens“ muss der Seelsorger immer wieder neu ausbalancieren. Einerseits ist eine begrenzte Kooperation mit dem therapeutischen Team notwendig, andererseits darf es nicht zu einer distanzlosen Vergeschwisterung kommen, weil in einem solchen Fall der vom Patienten gegebene Vertrauensvorschuss gegenüber der Seelsorge gefährdet wäre.
Die Patienten müssen den Seelsorger als unabhängig und frei gegenüber dem System Klinik erleben, als einen, der nicht dem behandelnden Arzt oder der Stationsleitung gegenüber verpflichtet ist. Diese besondere Rolle drückt sich signifikant für jedermann erlebbar im Ureigensten des seelsorglichen Vollzugs aus, z.B. in den gottesdienstlichen Feiern oder Angeboten zur Sakramentesspendung. Mit diesen findet ein Stück Normalität in der Klinik statt, denn es sind prinzipiell alle eingeladen: Patienten wie Mitarbeitende.
In den gottesdienstlichen Feiern und der Sakramentenspendung erleben sich die Besucher als gleichrangige Menschen, es wird nicht unterschieden und eingeteilt nach Krankheiten. Für jedermann wird sofort ersichtlich, dass diese „zweckfreien“, religiösen Vollzüge sich im Kern grundsätzlich unterscheiden von den therapeutischen Angeboten. Die religiösen Angebote sprechen Menschen primär als Glaubende, Hoffende, Zweifelnde, auch als Verzweifelte an, denen als Geschöpfe Gottes seine Menschenfreundlichkeit, seine Liebe und Zuwendung uneingeschränkt gilt. [a.a.O., S. 27].
Als Seelsorger bin ich unvermeidbar auch Projektions- und Symbolfigur. So erlebe ich Begegnungen, in denen ich als „Hoffnungsträger und Heilsbote“ gesehen werde oder aber auch umgekehrt als „Sündenbock“ herhalten muss für Ärger, Enttäuschungen und Schmerzen, die mein Gesprächspartner mit Repräsentanten von Kirche und Religion in der Vergangenheit erlebt hat.
Darüber hinaus hat die Präsenz von Seelsorgern nach Klessmann einen Hinweischarakter: „Die Seelsorger sind Repräsentanten der Religion, Repräsentanten einer anderen, tieferen oder transzendentalen Dimension des Lebens. Allein durch ihr Vorhandensein weist sie Menschen darauf hin, dass es diese Dimension Gottes gibt und dass es vielleicht bedeutsam sein könnte, sich mit Fragen der Sinnorientierung, der Sinnsuche gerade in einer so tief greifenden Krise wie in einer psychiatrischen Erkrankung, auseinander zu setzen“.
Die Existenz von seelsorgerlicher Begleitung, Begegnung und Beratung weist auf eine Dimension des Lebens hin, die in der Psychiatrie und Psychotherapie häufig zu kurz kommt, für die die psychiatrisch Tätigen oft keine Sprache und keine Wahrnehmung haben. [a.a.O., S. 27 f.].
Ein weiteres Moment gilt es zu beachten, um die unbewusste Dynamik meiner Patientenkontakte besser im spezifischen örtlichen Kontext verstehen zu können: Eine Psychiatrische Klinik ist eine Institution mit einer Machthierarchie: Chefarzt, Oberarzt, Stationsarzt, Psychologe, Pflegedienst. In dieser Hierarchie habe ich als Seelsorger formell keine Macht: Ich habe in der Klinik nichts zu bestimmen, nichts anzuordnen, nichts „Klinikrelevantes“ anzubieten! Dieses Faktum erzeugt oftmals unbewusst auf dem Weg von Übertragung und Gegenübertragung eine Solidarität der „Ohnmächtigen“, in diesem Falle zwischen Seelsorger und Patient. Diese unbewusste Dimension erzeugt mitunter im Gespräch und im Kontakt eine intensive Begegnungsqualität. Als Erläuterung hierzu ein Bespiel: meine Begegnung mit Herrn E.:
Herr E. sitzt seit Tagen in jeder freien Minute für sich alleine in der Cafeteria und signalisiert durch Körperhaltung und Ausdruck: „Ich bin in einer anderen Welt.“ Nicht aggressiv, sondern mit einem Lächeln im Gesicht.
Als ich ihm zum ersten Mal begegne, und ich ihn begrüßen will, ist er in eine Aura von Erhabenheit eingetaucht. Gütig und würdevoll lehnt er mit verneinendem Kopfschütteln meine ausgestreckte Hand ab. Einige Patienten, die meine hilflose Reaktion mitbekommen, lachen verschmitzt und erklären mir, dass Herr E. zurzeit mit niemandem spricht, sogar heute morgen bei der Visite nicht. Genau dies wird auch bei der Teambesprechung thematisiert, und alle Beteiligten sind sich darin einig, dass Herr E. sehr angenehme Stimmen hören muss, weil er immer so glückselig lächelt. Es werden Vermutungen dahin gehend ausgesprochen, dass Herr E. vielleicht die Stimme von einer schönen Frau hört.
In den folgenden Tagen sehe ich Herrn E. des öfteren an verschiedenen Orten auf dem Klinikgelände. Ich begrüße ihn immer freundlich, aber zugleich signalisiere ich ihm, dass ich sein Distanzbedürfnis respektiere. Umso mehr bin ich überrascht, als Herr E. mich eines Morgens nach der Frühandacht vor der Kapelle anspricht und mich um ein Gespräch bittet: Bedächtig und sehr vorsichtig beginnt er mit seiner Erzählung, hierbei taxiert er genau meine Reaktion. Ich erfahre von ihm, dass er türkischer Staatsbürger ist und ehrfurchtsvoll seinen moslemischen Glauben praktiziert. Er erklärt mir in klarer gedanklicher Folge einige Bestimmungen des Korans und in diesem Zusammenhang erwähnt er, dass Jesus von Nazareth im Koran eine hohe Wertschätzung genieße, und dass er als gläubiger Moslem zur Ehrerbietung gegenüber Jesus angehalten sei. Völlig korrekt klärt er mich darüber auf, dass der islamische Glaube aber die Gottessohnschaft Jesu verneine.
Jetzt wird die Stimme von Herrn E. leiser: Er wendet sich mir ein Stück näher zu und unser Kontakt wird intensiver. Herr E. vergewissert sich noch einmal, ob auch niemand zuhört, dann weiht er mich in sein großes Geheimnis ein: Er selbst sei Gottes Sohn, er sei Jesus Christus. Hier stutze ich erstaunt, weil Herr E. mir eben noch erklärt hatte, dass der moslemische Glaube die Gottessohnschaft Jesu verneine. Herr E. registriert mein Erstaunen und bemüht sich sofort um eine präzisere Erklärung: In Wirklichkeit sei er Gott, aber Gott sei allmächtig. Nun sei es aber so, dass er zurzeit nicht allmächtig sei. Er selbst könne ja nicht einmal entscheiden, hier in der Klinik von der Beschäftigungstherapie in die Arbeitstherapie zu wechseln. An diesem Ort hier sei er ohnmächtig, genau wie die Seelsorge, die hätte hier in dem Laden ja eigentlich auch nichts zu melden. Ja, auch Jesus sei ohnmächtig seinen Feinden ausgeliefert, darum sei er selbst jetzt auch nicht Gott, sondern Gottes Sohn und Gott würde ihm das immer wieder neu zusagen. Jetzt strahlt Herr E. mich mit einer inneren tiefen Genugtuung an und taucht nach kurzer Zeit weg in eine andere – in seine – Sphäre. Unser Kontakt ist abgebrochen. Ich erreiche ihn nicht mehr. So stehe ich auf und verabschiede mich. Mehr mechanisch und sehr abwesend reicht Herr E. mir die Hand.
In den nächsten Tagen kommt es zu zwei Begegnungen zwischen uns. Herr E. ringt mit sich und seinen inneren Stimmen, die er hört. Er will von mir mehr über Jesus erfahren. Ich erzähle ihm von Jesus von Nazareth, wie er den schwachen und ohnmächtig ausgegrenzten Menschen die Liebe Gottes vorgelebt und gepredigt habe. Sehr inwendig und konzentriert lauscht Herr E. mir zu und signalisiert seine Zustimmung durch Kopfnicken. Ich habe den sicheren Eindruck, dass ihm diese Nähe zu Jesus gut tut.
Nach 7 Tagen ändert sich der Zustand von Herrn E. Die pharmakolische Behandlung führt aus dem psychotischen Akuterleben heraus. Damit verändert sich auch sein religiöses Erleben, und ich habe den Eindruck, für Herrn E. als Gesprächspartner nicht mehr interessant zu sein.
Meine Arbeit als Pfarrer in der Psychiatrieseelsorge ist nicht zuletzt Begegnung mit menschlichem Leid, mit Zusammenbrüchen hoffnungsvoller Lebensperspektiven oder mit noch nie zustande gekommener Lebensqualität:
Ich denke an Frau D. (52 Jahre) und Herrn S. (28 Jahre), deren Leben sich seit vielen Jahren zumeist in der Tristesse geschlossener und offener Stationen abspielt. Ich denke an Herrn St., der mit seinen 29 Lebensjahren fast die Hälfte seines kurzen Lebens abwechselnd in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, im Gefängnis und in der geschlossenen forensischen Psychiatrie verbracht hat und fast keine Erfahrungen eines so genannten normalen Lebens in sich trägt. Ich denke an Herrn Z., dessen berufliches und privates Leben völlig vom Alkohol zerstört ist und der als ehemaliger Leistungssportler und Erfolgsmensch physisch und psychisch zerstört auf der Straße lebt. Ich denke an Herrn H., der als angehender, hoffnungsvoller Wissenschaftler zu Beginn seiner Universitätskarriere durch seine schizophrene Erkrankung aus seiner Lebensbahn geworfen ist und z.Zt. wieder auf der geschlossenen Station mit Hilfe hoher pharmakologischer Dosierung dumpf und stumpf seine Verzweiflung überbrückt. Vier Suizidversuche hat er in den letzten zwei Jahren überlebt.
Diese Beispiele verdeutlichen, wie sehr die Begegnungen in einer psychiatrischen Klinik die Fragen nach dem Sinn des Leidens, nach dem Bösen, nach Schuld und Zerstörung täglich herausfordern. Wie viel Angst und Not existent und wie groß die Sehnsucht nach Heilung und Heil ist.
Im Angesicht solchen Leids erlebe ich mich oft ohnmächtig, hilflos und resigniert, aber auch in so genannter professioneller Abwehr, um erst gar keine Betroffenheit in mir aufkommen zu lassen. Die existentiell-christliche wie auch theologisch-anthropologische Auseinandersetzung mit diesen Grenzfragen menschlichen Lebens und Zusammenlebens ist für mich eine Kraftquelle. Diese enge Berührung mit menschlichen Schicksalen lässt immer wieder neu fragen nach Sinn und Sein kreatürlicher Existenz.
Die Psychiatrie ist eingebettet in eine Gesellschaft, in der Krankheit und bleibende Behinderung nicht zuletzt aus Kostengründen immer mehr unter Rechtfertigungsdruck gerät.
Die Gesundheitsdefinition der WHO „Gesundheit als Zustand vollständigen psychischen, physischen und sozialen Wohlbefindens“ bestätigt de facto, wie hartnäckig unsere Gesellschaft die Realität kreatürlicher Gebrechlichkeit abwehrt und einer illusorischen Gesundheitsvorstellung hinterherrennt, koste es, wen und was es wolle. Was D. Hildebrandt mit Blick auf alte Menschen prägnant auf den Punkt bringt, lässt sich ohne weiteres auf psychisch kranke Menschen übertragen: „An und für sich ist Altsein bei uns noch erlaubt. Nur man sieht‘s nicht gerne“.
Umso mehr muss der Seelsorger unverwechselbar seinen Glauben, das christliche Menschen- und Gottesbild, ins Wort bringen, erneut und immer wieder offenbar und erfahrbar werden lassen. – Niemand gibt sich selbst das Leben. Leben ist immer gegeben: Leben ist also immer Geschenk! – Da Leben immer fragmenthaft, endlich, brüchig und vorläufig ist, zerstören ideale perfekte Zielvorstellungen letztendlich Humanität: Leben ist immer Fragment!
H. E. Richter beschreibt in seinem Buch „Der Gotteskomplex“ die radikale Verdrängung des Leidens in unserer narzisstischen Kultur „Die totale Auslöschung des Leidens wurde zu einem vorrangigen gesellschaftlichen Ziel als Kehrseite des Dranges nach narzisstischer Omnipotenz. Die absolute Selbstsicherheit als Rettung vor der verzweifelten Verlorenheit verlangt eine beständige Abwehr der Brüchigkeit, der Versehrtheit, des Sterbenmüssens“. [vgl. H. E. Richter, Der Gotteskomplex, Reinbek 1979, S. 129].
Gegen diesen Zeitgeist muss aus christlicher Sicht entschieden dagegen gehalten und aufgezeigt werden: Leiden, Endlichkeit und Gebrochenheit sind menschliche Wirklichkeit und Bestandteil des Lebens!
Anstelle eines Resümees die bewegende Feststellung einer ehemaligen Psychiatriepatientin:
„Fünfzehn Jahre durchlitt ich in unterschiedlichen Abständen manische und schwerste depressive Zustände. Versuche ich in der Erinnerung dem nachzuspüren, was mich jahrelang bedrängte, so war es das Gefühl, tief unten gefangen zu sein, gejagt und getrieben von Pfeilen, die aus mir nicht entweichen konnten, immer gegen mein tiefstes Inneres gerichtet. Jeder Mensch, der in die Nähe des Bettes kam, in dem ich in dumpfen Ängsten verstrickt lag, jagte mir Schrecken ein, wenn er mir Medikamente brachte oder Unmögliches forderte, nämlich meine zugemauerte Seele aufzubrechen und aufzustehen. Wie sollte ich mich aufrichten können, wo mich Gefühle umfassender Schuld und qualvolle Gedanken bis ins Tiefe niederdrückten? Zwei Jahre gleichsam im Inferno, aufgegeben, in der Psychose gefangen mit dem Gefühl, das alle Schuld auf einen Gedanken verengte: „Ich bin der Teufel“. Dies war meine ganz persönliche Brücke zu der mir zuvor fremd gewordenen christlichen Religion. In dieser Phase begegnete mir ein Mensch in ungewöhnlicher Weise, zwar tief betroffen aber nicht hilflos und beschwichtigend. Er verstand es, meine Zeichen zu deuten, obwohl ich nicht mehr sprechen konnte. Im Gebet! In der Annahme kam das Licht!“
* Der Autor ist Fachreferent der Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz, Köln
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