Die hörende Gemeinde St. Georg in Köln ist eine kleine Altstadtgemeinde am südlichen Ende der Innenstadt und umfasst nur etwa 600 Mitglieder. Der Gottesdienstbesuch liegt mit etwa 28% überdurchschnittlich hoch. Nach St. Georg kommen vorwiegend Menschen der zweiten Lebenshälfte: es sind Alleinstehende und Ehepaare, deren Kinder im fortgeschrittenen Jugendlichenalter oder bereits erwachsen und aus dem Hause sind. Das betrifft sowohl die Anwohner vor Ort als auch den relativ konstanten Anteil der Gottesdienstbesucher, die von außerhalb kommen. Jüngere Gottesdienstbesucher, d.h., Menschen unter 45 Jahren sind entweder Eltern von Messdienern oder Angehörige älterer Gottesdienstbesucher. Typisch für eine Pfarrei in dieser Innenstadtlage ist auch die unwägbare Zahl von Gottesdienstteilnehmern, die zu Besuch in der Stadt sind und häufig in Gruppen kommen. Es bleibt noch hinzuzufügen, dass der prozentuale Anteil der nicht vor Ort wohnenden, aber den Gottesdienst regelmäßig besuchenden „Personalgemeinde“ bei etwa 30% liegt.
Die Hörgeschädigtengemeinde an St. Georg in Köln wird in erster Linie von den Gehörlosen bestimmt. Da sich ihr Zentrum an St. Georg befindet, ist insbesondere der traditionsreiche katholische Gehörlosenverein EPHETA mit etwa 120 Mitgliedern so etwas wie der Personalstamm der hörgeschädigten Gottesdienstbesucher. Das Gehörlosenzentrum ist darüber hinaus Treffpunkt und Heimat für viele verschiedene Gruppen und Vereine. Von ihnen nehmen am kirchlichen Gemeindeleben insbesondere Mitglieder des polnischen und des russischen Gehörlosenvereins teil. Der türkische Gehörlosenverein setzt sich erwartungsgemäß vorwiegend aus Muslimen zusammen, für die das Gehörlosenzentrum als Begegnungsstätte offen steht. Insgesamt ist der Anteil nicht kirchlich gebundener, vor allem junger Vereinsmitglieder sehr hoch. Der Anteil der Vereinsmitglieder über 50 Jahre liegt im katholischen Gehörlosenverein EPHETA bei etwa 60%; bei den übrigen Gehörlosenvereinen deutlich darunter!
Die kurze Skizzierung zeigt, dass es sich bei den Gehörlosen an St. Georg um eine durchaus inhomogene Gruppe handelt. Dem steht aber entgegen, dass sich alle hier beheimateten Gruppen als Gehörlose definieren und hierin doch eine partielle, für das Leben der Hörgeschädigten bedeutende Homogenität besitzen! Die seelsorgliche Arbeit am Gehörlosenzentrum St. Georg bietet zunächst ein umfangreiches Programm an Beratung und Einzelseelsorge an. In Zusammenarbeit zwischen der Kölner Hörgeschädigtenschule und der Kölner Gehörlosenseelsorge wird an St. Georg ferner die Kommunion- und die Firmkatechese für hörgeschädigte Kinder organisiert und durchgeführt. Adressaten- und altersbezogen werden seit 1997 auch religiöse Besinnungstage angeboten. Diese finden sowohl auf regionaler wie auf diözesaner Ebene statt. St. Georg ist sowohl Regionalstelle für den Bereich Köln als auch Diözesanzentrale für das ganze Erzbistum. Schließlich werden von hier aus auch Seminare, Weiterbildungs- und Kulturveranstaltungen sowie Familienarbeit durchgeführt; diese Maßnahmen werden ebenfalls teilweise für die Region Köln, teilweise überregional für das Erzbistum Köln angeboten.
Die Entwicklung eines integrativen, partnerschaftlichen Gemeindelebens an St. Georg hat damit begonnen, dass die hörende Gemeinde 1989 ihren Gemeindesaal zur Verfügung stellte, damit sich dort alle 14 Tage ein Mütter-Kind-Kreis treffen konnte. Zu diesem Kreis gehörten gehörlose und schwerhörige Mütter zusammen mit ihren teils ebenfalls hörgeschädigten, teils aber hörenden Kindern, gemischt aus unterschiedlichen sozialen Schichten und mit unterschiedlichen Graden an Hörschädigung. Sie kommen seitdem hier zusammen, um sich über ihre alltäglichen Probleme, Erfahrungen, Neuigkeiten u.s.w. zu unterhalten.
Während die Mütter miteinander plaudern, spielen die Kinder. Manchmal kommt eines gelaufen, möchte trinken, etwas essen, die ganz Kleinen brauchen eine neue Windel u.s.w. Es ist also eine ganz alltägliche Situation, in der Mütter und Kinder miteinander zusammen sind.
Im Laufe der Jahre hat sich der Mütter-Kind-Kreis verändert und entwickelt; die Leitung wurde schon nach einigen Jahren an eine der Mütter weitergegeben, die wieder ein Kleinkind mit in den Kreis brachte. In einem dritten Schritt wurde Ende des Jahres 2000 die Leitung auf vier Mütter aufgeteilt: Eine ist verantwortlich für die Küche, eine andere für den Saal; andere organisieren das Spiele- „Bastel- oder „andere die Aufsicht über die Kinder im angrenzenden Garten. So ist die Verantwortung für die einzelne Mutter nicht zu groß, im Vierergremium kann sie sich auf ihren Aufgabenbereich konzentrieren, ohne dennoch an Kontakt und Austausch mit den übrigen Frauen zu kurz zu kommen. Beliebte Festtage sind z.B. Ostern, Erntedank, der Martinstag und das Weihnachtsfest. Es werden aber auch Geburtstage der einzelnen Kinder sowie Fastnacht oder eine Sommerolympiade gemeinsam gefeiert und Spiele gemacht.
Solche Mutter-Kind-Kreise sind heute in vielen Kirchengemeinden vorzufinden. Es handelt sich also hierbei um einen ganz alltäglichen Kreis, der sich an der Kirche trifft und zur Gemeinde gehört. Aber es ist doch nicht ganz so wie überall, denn hier sind es Menschen mit unterschiedlicher Hörfähigkeit, die sich treffen mit dem gemeinsamen Ziel, sich zu unterhalten und miteinander einige schöne Stunden zu verbringen. Sie bringen fast alle dieses Miteinander von Hörenden und Nichthörenden / schwer Hörgeschädigten schon als Erfahrung aus ihrer Primärfamilie mit. Nur selten sind über Großeltern, Eltern und Kinder hinweg alle gehörlos. Vielmehr ist es der Normalfall, dass Hörgeschädigte und Hörende bereits in ihrer primären Lebensgemeinschaft, der Familie, miteinander zu tun haben und gezwungen sind, aufeinander einzugehen. Das Miteinander von Hörenden und Nichthörenden bildet in einer solchen Situation eine, wie wir sagen, „lebensbedingte Integration von nichthörenden und hörenden Partnern“. Diese Integration ist schon da, bevor Außenstehende sie veranlassen, d.h., sie ist ohne Fremd-lnitiierung und ohne eventuelle ideologische Hinterabsichten hier vorhanden. Wir haben an St. Georg festgestellt, dass der Mutter-Kind-Kreis – zu dem inzwischen auch mehr und mehr Väter, die es sich beruflich einrichten können, hinzukommen – die Gemeinschaft von Hörgeschädigten und Hörenden, wie sie im Normalfall schon in der Familie besteht, wiederholt! Das integrative Miteinander von Hörenden und Nichthörenden schon in der Primärfamilie, das wir als „lebensbedingte Integration“ bezeichnen, greifen wir in der Gehörlosenseelsorge auf. Wir nutzen diese immer schon vorhandene Integrationsform als Ausgangspunkt, um darauf ein Konzept integrativer Seelsorge aufbauen zu können. Dazu geben wir ihr in der Kirchengemeinde die entsprechenden Voraussetzungen zu ihrer Entfaltung. Die Erfahrungen in der eigenen Familie, der Primärfamilie als erstem Bezugsrahmen, werden übertragen auf die Kirchengemeinde, sozusagen als Sekundärfamilie, und hier zuerst auf den Mutter-Kind-Kreis.
Das positive Echo auf die integrativ gestalteten Gottesdienste zu Erstkommunion und Firmung, über die im nächsten Heft berichtetet wird, ermutigte uns dazu, seit 1996 die vier Adventssonntage ebenfalls integrativ zu gestalten. Die Zahl der hörgeschädigten Teilnehmer schwankt zwischen 10 und 40. Für sie wird der gesamte Wortgottesdienst von der Übersetzerin an einem festen Platz im Blickfeld des Altarraumes in die Gebärdensprache übersetzt. Mit der Gabenbereitung übernimmt der Gehörlosenpfarrer selbst die gleichzeitige Übersetzung zu seinem Sprechen. Ein intensives Bekannt machen, Einladen und Werben zum Teilnehmen an diesen Gottesdiensten, besonders in Kreisen der Gehörlosenvereine, hat zu einer langsam steigenden Teilnehmerzahl unter den Hörgeschädigten geführt. Die Liturgiegestaltung reduziert das Liedund Musikprogramm. Mit Rücksicht auf die hörenden Gottesdienstbesucher kommen besonders die traditionellen Adventslieder zum Einsatz, die für die Hörgeschädigten gleichzeitig als Gebärdenlieder erarbeitet wurden. Der Schwerpunkt der Gottesdienstgestaltung liegt auf einer symboldidaktischen Katechese, die insbesondere biblisches Grundwissen zum Advent vermittelt. Die Katechese bevorzugt eine handlungsorientierte Vorgehensweise, die in Gestalt einer Prozession als „Krippengang“ den Gedanken von Lesung und Predigt mit Hilfe eines eingängigen Symbols fortsetzt. Hierzu wird ein passendes Adventslied gesungen; an der Krippe folgt die Überleitung zum kurzen Evangelientext. Fürbitten, die wirklich als alltags sprachliches Gebet der Gemeinde formuliert sind, leiten dann den Rückweg in kurzer Prozession ein. Die Liturgie fährt mit der Gabenbereitung und Eucharistiefeier fort.
Zu den integrativ gestalteten Adventsgottesdiensten hatten wir die Eltern und Kinder, die Mitglieder der verschiedenen Gehörlosenvereine und -gruppen eingeladen. Tatsächlich kamen zu dieser überschaubaren und begrenzten Reihe von Adventsgottesdiensten sonntags mehr hörgeschädigte Erwachsene und Kinder, als wir erwartet hatten. In den Gottesdiensten hatten wir verschiedene Elemente für Kinder vorbereitet und in den Ablauf hineingewoben. Wir hatten jedoch die Grundregeln der Gestaltung von Gottesdiensten mit Hörgeschädigten angewandt: Betonung der Visualisierung; starke Handlungsorientiertheit; Dauer nicht über 45 Minuten; gedanklich- inhaltliche Entwicklung einer zentralen Gottesdienstaussage in besonderer Kleinschrittigkeit. Diese Gestaltung der integrativen Gottesdienste erlaubte es Eltern und Kindern gleichermaßen, dem Geschehen im Gottesdienst rational und emotional zu folgen. So wurde z. B. im Advent 1998 an den vier Sonntagen im Gottesdienst jeweils eine Vision des Propheten Jesaja zugrunde gelegt, z.B.: „Die Wüste soll jubeln und blühen“ oder „Aus der toten Wurzel wird ein fruchtbarer Zweig wachsen“ oder „Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen und einen Sohn gebären“. Auf dem Weg der symboldidaktischen Katechese wird der Grundgedanke der Vision erfasst und auf das Lebensverständnis der heutigen Zeit übertragen. Anschließend wird ein reales Symbol, z.B. eine große, tote Wurzel oder ein Bund großer Rosen zu dem vorbereiteten Krippenplatz gebracht, an dem während der Adventssonntage die bühnenartige Darstellung jedesmal während des Gottesdienstes verändert und weiterentwickelt wird. Die Prozession während der Messfeier, wir nennen sie „Krippengang“, wird zu einem festen Bestandteil der Adventsliturgie. Die Teilnehmer bewegen sich durch die Kirche. Bewegung auf Weihnachten hin wird am eigenen Leibe spürbar. Mit beiden Beinen erfahre ich, dass Bewegung in mein Leben kommt. . .
Hauptcharakteristikum dieser integrativen Gottesdienste ist ihre ausgeprägte sinnliche Gestaltung. Der Gottesdienst ist mit allen Sinnen wahrnehmbar. Hierbei spielen Aspekte der Visualisierung eine besondere Rolle. Nicht nur, dass Bilder projiziert werden, auch große, weithin sichtbare Symbole werden Bedeutungsträger im Gottesdienst. Katechetisch eingesetzte Gegenstände oder Figuren werden dramatisch enthüllt oder in anderem Zusammenhang verhüllt. Die Prozession und der Orts- und Raumwechsel innerhalb der Kirche und innerhalb derselben Liturgie spielen eine große Rolle. „Es passiert was.“ Die Aktion, die im Gottesdienst geschieht, hilft über ein Symbol, den Gedanken um den es geht, nachhaltig einzuprägen. Die Aktion und die Konstruktion, wenn z.B. Sonntag für Sonntag an einer bühnenartigen Einrichtung weitergebaut und weiter verändert wird, ist ebenso von Bedeutung. Die in vielen Kirchen und Gottesdiensten oft als Einzige oder Größte angesehene (Großbild-) Projektion tritt diesmal in den Hintergrund. Die wiederholte Gestaltung der Adventsgottesdienste in integrativer Weise zeigte, dass die meisten Hörgeschädigten nur ein sehr geringes Grundwissen in biblischen, liturgischen und dogmatischen Dingen haben. Von daher war auch die Entscheidung für eine symboldidaktische Katechese und den handlungsorientierten Krippengang gekommen. Die Reaktion war verblüffender Weise nicht nur von Seiten der hörgeschädigten, sondern auch von Seiten der hörenden Gemeinde besonders positiv. Hörende Gottesdienstbesucher und Gemeindemitglieder lobten die sinnlich ansprechende, ergreifende Gestaltung der Gottesdienstfeier. „Die Gottesdienstgestaltung für Gehörlose bringt auch uns was“, war die durchgängige Beurteilung. Auf Seiten der Hörgeschädigten war in erster Linie die stolze Bemerkung zu hören: „Dieser Gottesdienst ist für uns so gestaltet!“. Immer häufiger kam jetzt aber auch die Bemerkung dazu, die zuvor nicht eingestanden wurde: „Wir können jetzt alles verstehen, was da abläuft“, und sowohl von hörgeschädigten als auch von (besonders jüngeren) hörenden Gottesdienstbesuchern war zu vernehmen: „So bleibt die Messe bis zum Schluss spannend. Da passiert was!“ Mit diesem Bericht über das integrative Gemeindeleben an St. Georg in Köln eröffnen wir eine Artikelreihe zu diesem Thema. Diese Reihe möchte anhand unterschiedlicher Entstehungsphasen die Entwicklung zur integrativen Gemeinde in Köln aufzeigen. Dabei werden jeweils zwei Teilabschnitte dieser Entwicklung herausgegriffen. In diesem Heft werden zuerst die Anfänge dargestellt sowie auf die Möglichkeiten der Gottesdienstgestaltung zu den geprägten Zeiten aufmerksam gemacht.
Vorausschickend sei darauf hingewiesen, dass unter dem Begriff „Integration“ in diesem Zusammenhang das gleichberechtigte Einbringen aller beteiligten Personengruppen verstanden wird, nicht aber das Aufgehen einer Gruppe in der anderen.
Wie das möglich geworden ist, soll in den Beiträgen der folgenden Hefte deutlich werden.
*Der Autor ist Leiter der Arbeitsstelle (aus: Hörgeschädigtenpastoral-Arbeitsgebiete der Seelsorge, Band III, Hrsg. K.-H. Stockhausen, H. Jussen, J. Mergenbaum, H.-J. Reuther, Heidelberg 2001)
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