Aus: Norbert Mönter (Hg.),
Seelische Erkrankung, Religion und Sinndeutung,
Bonn 2007, 142-153.
Martin Pott
Frau K. ruft die Kontaktstelle der „Ambulanten Psychiatrieseelsorge“ in der Aachener City an. Sie hat in der Zeitung von diesem Dienst gelesen. Sie bittet um einen Hausbesuch, da sie aufgrund einer Zwangserkrankung seit zwei Jahren ihre Wohnung nicht mehr verlassen habe. Der Seelsorger trifft eine Frau Anfang dreißig an, die bei ihrer Mutter lebt. Als Jugendliche hat sie erstmals mit starken Angstschüben zu tun gehabt. Jetzt haben Zwangsgedanken und -handlungen die Frau „im Griff“. Frau K. bezeichnet sich als religiösen Menschen. Glaube und Kirche sind Teil ihrer Biographie. Allerdings spielt Gott in ihren Zwängen eine ambivalente Rolle. Einer ihrer Zwangsgedanken redet Frau H. ein: „Wenn du nicht jeden Tag 600 Kniebeugen machst, wird Gott deine Mutter nur noch zwei Jahre leben lassen.“
Zwei Gesprächsfäden werden im seelsorglichen Begleitungsprozess leitend. Zum einen der Austausch über Gott und erlernte Gottesbilder. Die seelsorgliche Begleitung versucht eine Annäherung an die Person Jesu als den, der die Befreiung des Menschen aus Not und Zwängen will. Zum anderen geht es im Gespräch um das Anschauen der Biographie von Frau K., ihre familiären Verstrickungen, ihre höchst ambivalente Mutterbeziehung. Wenn die Situation es nahe legt, beten die Erkrankte und der Seelsorger gemeinsam. Im Ritus des Gebets wird eine transpersonale Dimension eröffnet, die Halt gibt, ohne in falscher Weise zu vertrösten.
Frau K. hat parallel eine Verhaltenstherapie begonnen. Seelsorger und Therapeut stimmen ihre Vorgehensweisen aufeinander ab. Bestärkt durch beide Begleiter entwickelt Frau K. eine morgendliche Meditationsform, in der sie das göttliche Licht als Kraft gegen die Zwänge in sich aufnimmt und sich Tag für Tag zuspricht, dass Gott Gutes und Schönes für ihr Leben will. Mit großer Disziplin hält Frau K. an dieser einstündigen Meditationsübung fest. Nach einem dreiviertel Jahr der Begleitung verlässt Frau K. erstmals seit drei Jahren wieder ihre Wohnung. Sie findet eine Teilzeitstelle in einem Geschäft und macht Pläne, in welche Richtung sie sich künftig beruflich orientieren will. Ihr ist auch klar, dass sie sich räumlich von ihrer Mutter lösen muss. Frau K. beginnt mit der Wohnungssuche.
Dieser Beitrag beschreibt und begründet eine Veränderung: im Großraum Aachen wird ab 1996 konsequent begonnen, Psychiatrieseelsorge als sozialpsychiatrisches Handeln zu konzipieren und zu praktizieren1. Der neue Weg entsteht nicht als Kopfgeburt, sondern aufgrund konkreter Erfahrungen. Zum einen ist es die Beobachtung, dass Patientinnen und Patienten nach ihrem stationären Aufenthalt hinsichtlich weiterer seelsorglicher Begleitung in ein ‚Niemandsland’ entlassen werden. Nur in Einzelfällen ist es möglich, Kontakte zu den Seelsorgern der Heimatgemeinden her zu stellen. Die meisten sind wieder auf sich selbst gestellt. Nach Entlassung zurück in die Klinik zum Gespräch mit dem Seelsorger zu gehen, ist auch keine wirkliche Alternative, da die Menschen froh sind, die Klinik endlich hinter sich gelassen zu haben.
Zum anderen hat die Psychiatriereform in Deutschland ‚Gemeindenähe‘ ganz oben auf ihrer Agenda. Die psychisch kranken Menschen sollen nicht länger am Rande der Städte in Groß-Einrichtungen „versteckt“ leben, sondern wie alle unter Bürgerinnen und Bürgern wohnen können. Die Frage der Integration in die Kommunalgemeinde wird auch zur Herausforderung für die Kirchen. Wer steht als Ansprechpartner für die vielen zur Verfügung, die langfristig in Wohnheimen, Wohngruppen, dem Betreuten Wohnen oder auch ohne feste Bindung an einen psychiatrischen Hilfeverein über die Stadt oder Ortschaft verstreut wohnen? Vor diesem Hintergrund verfolgt der der neue Aachener Ansatz ein dreifaches Ziel. Die Psychiatrieseelsorge soll
für Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige und Mitarbeiter/innen außerhalb der Kliniken seelsorgliche Ansprechpartner zur Verfügung stellen; · mit der Seelsorge der Pfarrgemeinden vernetzt werden; · in der kommunalen Struktur der Sozialpsychiatrie als ein ‘Baustein der Versorgung’ psychisch Erkrankter etabliert werden.
Schon die ‚Expertenempfehlungen’, ein zentraler Text der Psychiatriereform, geben den Hinweis auf die transversale Funktion, die die Reformer für die Kirchen sehen2: ‘Brücke’ zu sein, „Zugangspunkte“ (Anthony Giddens) personaler Art bereitzustellen für Menschen, die aufgrund ihres persönlichen Handicaps einen besonderen Bedarf nach Orientierung und Sozialkontakten haben. Hier setzt das Aachener Projekt an. In Ergänzung zur Präsenz der Psychiatrieseelsorge in den psychiatrischen Kliniken der Stadt schafft es sich einen zentral gelegenen „Brückenkopf“, indem in der City von Aachen eine Kontakt- und Beratungsstelle eingerichtet wird, die auch als Info-Leitstelle dient. Ob die Psychosoziale Beratungsstelle der Stadt oder eine niedergelassene Psychiaterin einen Seelsorger sucht, ob ein Pfarrer Unterstützung für ein erkranktes Gemeindemitglied sucht – in all diesen Fällen erweist es sich als gut, den Kooperationspartnern sowohl in der gemeindepsychiatrischen wie der kirchlichen Szene eine zentrale Anlaufadresse anbieten zu können.
„Der Mensch in der vollen Wahrheit seiner Existenz, seines persönlichen und zugleich gemeinschaftsbezogenen und sozialen Seins … er ist der erste und grundlegende Weg der Kirche.“ (RH 14)3 Neben dieser „Situation“ ist die „Tradition“ konstitutiv für die Entwicklung kirchlicher Praxis. Beide Momente sind die zentralen Koordinaten auch jedes Seelsorgekonzepts.
Vergisst Seelsorge die ‚Tradition’, misst sie sich also nicht mehr am biblischen Zeugnis und ihrer eigenen Geschichte, so setzt sie ihre Identität als kirchliches Handeln aufs Spiel. Sie verliert ihr ureigenes Wesen aus dem Blick, nämlich dass sie „Sakrament, d.h. Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ ist (LG 1)4, so das Zweite Vatikanische Konzil in einem seiner Kernsätze. Als ‚Zeichen’ weist Kirche über sich hinaus auf den Gott, aus dessen Liebe sie überhaupt existiert. Als ‚Werkzeug’ steht sie im Alltagsdienst an den Menschen. D.h., es gilt auch umgekehrt: vergisst Kirche die ‚Situation’, orientiert sie sich nicht an den ganz konkreten Lebenswirklichkeiten der Menschen, so verliert Seelsorge ihre Relevanz für eben diese Menschen; sie wird ort- und bedeutungslos. Die Spannung zwischen diesen beiden Polen von Tradition und Situation ist unbedingt aufrecht zu erhalten, denn es ist die konstitutive Spannung der Kirche selbst – einer Kirche, die eben nicht länger wirklichkeitsenthoben ewige Wahrheiten verkündet, sondern die mit den Menschen, dem Volk Gottes, auf dem Weg ist.
Eine Psychiatrieseelsorge, die sich wirklich auf die Lebensräume der Betroffenen einzulassen bereit ist, darf sich nicht als isolierte Spezialseelsorge verstehen. Dafür sind die Lebensräume psychisch kranker Menschen in Familie, Freundeskreis, Wohnumfeld, psychiatrischer Klinik und deren Nachsorgeeinrichtungen, am Arbeitsplatz zu komplex. In der Pastoral (von lat. pastor = Hirte) der Kirche – damit ist ganz allgemein das Handeln der Kirche in der Welt gemeint – steht der Ansatz der ‚Sozialpastoral’ für ein seelsorgliches Handeln, das dieses Bedingungsgefüge konsequent ernst nimmt. Sozialpastorales Handeln „zielt darum nicht nur auf die Bekehrung von Personen, sondern auch auf die von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen, wo sie Menschen an einem ihrer Würde und den damit gegebenen Rechten entsprechendem Leben – als Kinder Gottes – hindern.“5 Die Parallelen zur Debatte um das Konzept der Sozialpsychiatrie sind frappant. Hier wie da wird zuweilen gefragt, ob nicht die Rede von „Sozial-Pastoral“ bzw. „Sozial-Psychiatrie“ dem berühmten „weißen Schimmel“ ähnele, da doch evident sei, dass eine nicht-soziale Pastoral den Namen ‚Pastoral’ ebenso wenig verdiene wie eine „Psychiatrie soziale oder keine Psychiatrie sei“6, so Klaus Dörner schon 1972. Es zeichnet sich eine deutliche Perspektivenkonvergenz von Sozialpsychiatrie und Sozialpastoral ab. Beide machen Ernst damit, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Ihn machen nicht nur Individualität, sondern ebenso Bezogenheit aus. Seelsorge wie Psychiatrie verfehlen den Menschen, wenn sie sein biographisches Geworden-Sein und seine sozialen Bezüge und Bedürfnisse gering achten. In Konsequenz muss die Psychiatrieseelsorge dem psychisch kranken Menschen „über die Klinikmauern hinweg“ in seine soziale Welt folgen, will sie ihm wirklich zur Seite stehen.
Der neue ambulante Dienst der Psychiatrieseelsorge gehört einerseits zum Expertensystem des allgemeinpsychiatrischen Versorgungsnetzes, andererseits ist er nicht in die Leistungs- und Entgelt- Struktur der Krankenkassen und Landschaftsverbände eingebunden. Einerseits ist der unbürokratische Zugang zu unserer Stelle eine gute Voraussetzung zum Aufbau einer konstruktiven Seelsorge- Beziehung, andererseits müssen wir achten, dass Personen uns nicht als Therapieersatz benutzen, weil sie dem offiziellen Verfahren oder der vermeintlich höheren Verbindlichkeit eines Therapieprozesses ausweichen wollen. Wesentlicher Bestandteil der Erstgespräche ist deshalb die Abklärung der Motive zum Aufsuchen gerade der Seelsorgerin bzw. des Seelsorgers. Je nach Einschätzung wird es dann notwendig, jemandem andere Formen und Stellen der Beratung oder Behandlung zu empfehlen. Drei Inhalte sind konstitutiv für unser Verständnis von Seelsorge: begleiten, deuten, stützen.
Begleiten setzt eine Begegnung und Beziehungsaufnahme voraus. Begleiten geschieht be-mündigend und ko-evolutiv. Seelsorge muss im Wortsinn eine ausgeprägte „Geh-Struktur“ entwickeln und sich ambulant als „Wander-Seelsorge“ ausprägen (ambulare (lat.) = (herum)wandern), d.h. Menschen zu Hause, in Wohnheimen, in Sozialpsychiatrischen Zentren etc. aufsuchen. Da die Achtung der Personwürde und der Glaube an die Gottebenbildlichkeit des Menschen die anthropologischen Ausgangspunkte unseres Arbeitens sind, sehen wir den schwer psychisch erkrankten Menschen wie jeden „Gesunden“ als einen Menschen mit einer Berufung und mit Begabungen an. Insofern gehört Psychiatrieseelsorge nicht zum Spektrum der ‚Behandler’, sondern wird von uns als professionelles Angebot der Begleitung verstanden. Sie ist keine Therapie im medizinisch-psychotherapeutischen Verständnis, will aber dennoch heilsam sein. Stärker als die Heilung zielt sie einen Beitrag zum gesamtmenschlichen Heil-Werden an. Die Unterscheidung von G.R. Heyer trifft den Kern: ‚Seelen- Heilkunde’ und ‚Seelenheil-Kunde’7. Seelsorge als ‚Seelenheil-Kunde’ geht es um ein heil-Werden, das im Letzten nicht mit rein irdischen Mitteln erreichbar ist, sondern Geschenk Gottes bleibt. Dies bedeutet nicht, dass das Leiden im Hier und Jetzt bagatellisiert wird. Aber es heißt, im Prozess der seelsorglichen Begleitung gemeinsam mit dem oder der zu Begleitenden nach Kraft- und Energiequellen für die Gesundung Ausschau zu halten, die tief im Innern des Menschen liegen und sich nicht dessen eigener Leistung, sondern seinem Verbundensein mit der göttlichen Kraft verdanken.
Deuten erfolgt in einer gemeinsamen Suchbewegung von Seelsorger/in und Gegenüber. Zwischen der Trauer über das, was nicht möglich ist, und der Freude über geglückte Alltagsbewältigung gilt es, das Leben als Ganzes zu deuten. Seelsorger/innen können die Perspektive des Glaubens als Deutungshilfe ansprechen. Ob und wie sie Gewicht erhält, hängt nicht nur von ihnen ab. Biblische Szenen und Gestalten können im Seelsorgeprozess zur (Gegen-) Identifikation anregen und Identitätsbildung stützen. Über das Gespräch hinaus sind Riten, dazu geeignet, Erfahrungsräume zu eröffnen, dass da einer ist, der menschliches Klagen aushält, der Kraft in der Kraftlosigkeit und Hoffnung in aller Hoffnungslosigkeit schenken will.
Stützen bedeutet für die Psychiatrieseelsorge in erster Linie, dass sie die Funktion ‚Brücke zur Gemeinde’ (‘Gemeinde’ kommunal wie kirchlich verstanden) wirklich ernst nimmt. Pastorale Arbeit mit Psychiatrie-Erfahrenen wird damit auch zu einer Herausforderung für die Pfarrgemeinden als soziale Netzwerke im Lebensraum psychisch erkrankter Menschen.
In vielen Städten sind Psychose-Seminare aufgebaut worden, so auch in Aachen. Aber der Trialog soll und darf nicht nur in diesem Setting stattfinden, sonst wäre er in eine Nische abgedrängt. Eine Psychiatrieseelsorge, die sich theologisch in der oben skizzierten Form versteht, muss Trialog zu einem Prinzip ihres Handelns machen. Aus diesem Grund haben wir in Aachen die Ökumenische Initiative „Kirche & Sozialpsychiatrie in Aachen“ gegründet. Es ist damit eine Kommunikations- und Arbeitsplattform geschaffen, die die Psychiatrieseelsorge nicht nur mit Vertreterinnen anderer professioneller Perspektiven, sondern vor allem mit Psychiatrie-Erfahrenen selber und ihren Angehörigen zusammen führt. Psychiatrieseelsorge wird damit „geerdet“. Sie schützt sich selber vor der Versuchung, zu einer „Seelsorge für…“ oder gar einer „Seelsorge an…“ zu werden.
Die IKSA ermöglicht, umfassender wahrzunehmen, qualifizierter zu urteilen und gezielter zu handeln. Sie verleiht Betroffenen, Co-Betroffenen und Ehrenamtlichen Raum und Stimme und trägt zur Entfaltung der verschiedenen Charismen bei. Zur Vorbereitung von größeren Vorhaben richtet die IKSA ‚ad-hoc’-Arbeitsgruppen ein. Es muss allerdings auch gesehen werden, dass die Psychiatrie- Erfahrenen und Angehörigen aufgrund ihrer persönlichen Lebenssituationen phasenweise nur begrenzte oder auch gar keine Ressourcen für die IKSA zur Verfügung stellen können. In Gestalt der IKSA tritt Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin auf den Plan. Als gesellschaftliche Kraft problematisiert sie solidarisch mit den Betroffenen psychische Erkrankung auch als gesellschaftliches Phänomen.
Im Laufe der Jahre etabliert sich die seelsorgliche Einzelbegleitung am Telefon, im Rahmen von Hausbesuchen oder in der Kontakt- und Beratungsstelle, wo ungefähr die Hälfte aller Beratungsgespräche stattfinden. Immer wiederkehrende Themen sind: Schuld, Sünde und Vergebung, Versündigungswahn, Besessenheit, Depressionen und Angstzustände, Umgang mit Grenzerfahrungen, soziale Isolierung, Fragen des Umgangs mit Familienangehörigen, Orientierungssuche in Lebenskrisen, Partnerschaftsprobleme, Probleme mit der religiösen Biographie. Glaubenszweifel, Glaubensverunsicherung durch Sekten oder sektenähnliche Gruppen, Gottesbild. Die Themenpalette zeigt, dass es einen deutlichen religiösen Fokus der Fragestellungen gibt. Die Kontakt- und Beratungsstelle wird in der Tat als Ort seelsorglicher Begleitung aufgesucht. Kirche ist hier „in Rufweite“ und kann schnell reagieren. Diese Basisqualitäten von Kirche werden heute von Menschen wieder verstärkt gesucht. Nicht immer bringen die Leute eine explizit religiöse Frage mit. Wir sprechen diese Dimension jedoch immer aktiv an. Religiosität ist eine Ressource zum gesund Werden – vorausgesetzt, es ist keine verquere, lebenshemmende religiöse Prägung erfolgt. Dies gilt es zu prüfen, um jeweils im Einzelfall die Chancen auszuloten, die im gezielten „Anzapfen“ dieser Ressource liegen könnten. Wir tun dies im Wissen darum, dass viele vor allem amerikanische und angelsächsische Studien empirisch den Wert dieser Dimension belegen.8
Im Kontext der Ressourcenorientierung nehmen wir auch die Kirchengemeinden in den Blick, in denen die Betroffenen wohnen. Wir stellen Kontakte zu gemeindlichen Gruppen und Verbänden oder den örtlichen Seelsorger/innen her, denn Kontakt- und Beheimatungswünsche im direkten Lebensumfeld sind in der Regel Wunsch der Beratenen. Chronisch Erkrankte wollen raus aus dem Dunstkreis der „Psycho-Szene“, hinein in Kontaktnetze mit den so genannten „Normalen“. Diese Kontakt- und Vermittlungsarbeit ist sehr zeitaufwendig. Es zeigt sich leider, dass es nicht viele Gruppen gibt, die offen und belastbar genug sind, eine Person aufzunehmen, die im Kontakt und Umgang besonders viel Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen bedarf. Was in der Psychiatrie als immer noch dominante intramurale Perspektive und Institutionengebundenheit echte Schritte in die kommunale Gemeinde hinein blockiert, stellt sich analog bei der Gemeinde-Kirche als selbstgenügsame „Kirchturmfixierung“ dar, die die Augen vor den Realitäten des Sozialraums verschließen lässt. Wo auf ihrem Gebiet eine „identifizierbare“ Einrichtung der Hilfe für psychisch erkrankte Menschen liegt, sei es ein Wohnheim oder eine Wohngruppe, ein Sozialpsychiatrisches Zentrum oder eine Tagesstätte, haben beide Seiten die Chance, ein kontinuierliches Miteinander Schritt für Schritt aufzubauen.
Sehr hilfreich können Kampagnen oder Aktionen sein. Als der Deutsche Caritasverband im Jahr 2002 das Jahresthema „mittendrin draußen: psychisch krank“ ausgab, haben wir in Aachen zum ‚Caritas- Sonntag’ im Herbst den Pfarrgemeinden ein Kooperationsprojekt vorgeschlagen. Die Psychiatrieseelsorge Aachen hat vielfältige Formen von Unterstützung und Begleitung angeboten, wie z.B. Info- und Gesprächsabende für Gruppen und Gremien, Texte für die pfarreigene Öffentlichkeitsarbeit, Mitarbeit bei der Gottesdienstgestaltung, Vermittlung von Predigerinnen und Predigern sowie die Kontaktanbahnung zu Einrichtungen psychiatrischer Hilfe im Pfarrgebiet. Von 42 angeschriebenen Pfarrgemeinden im Stadtgebiet haben zwölf kooperiert. Der Psychiatrieseelsorge gelingt es, Sozialarbeiter, Therapeutinnen und Ärzte zur Mitarbeit zu gewinnen. Sie stehen als Gesprächspartner auf Gemeindeabenden Rede und Antwort, erzählen im Gottesdienst von persönlichen Begegnungserfahrungen oder trauen sich sogar zu predigen. Beide Seiten profitieren dabei. Die Professionellen aus dem Feld haben Gelegenheit, einer breiteren Öffentlichkeit einen authentischen Einblick in ihr Arbeiten zu geben und dadurch Berührungsängste oder Vorurteile abzubauen. Die Gemeinden andererseits erleben, mit wie viel innerem Engagement Frauen und Männer in psychiatrischen Einrichtungen und Diensten – oft auch als überzeugte Christinnen und Christen – arbeiten. Sie werden Zeuginnen sehr persönlicher Erfahrungsberichte.
Am beeindruckendsten sind die Beiträge der Betroffenen selber: Herr S., nicht nur Psychiatrie-, sondern auch Forensik-erfahren, lebt im Rahmen seiner Bewährungsphase in einem Wohnheim. Er ist bereit, in seiner Pfarrkirche im Gottesdienst seine Geschichte zu erzählen. Wohnheim und Kirche liegen in derselben Straße. In diesem Fall findet tatsächlich die in der Liturgie vorgesehene „collecta“ statt, d.h. es wird etwas vom Leben der Gemeindeglieder „gesammelt“ und vor Gott getragen. Die anwesende Gottesdienstgemeinde darf Anteil nehmen an der großen Fähigkeit des Sprechenden zur Selbstreflexion. Sie wird beschenkt mit dem Mut eines Menschen zur Offenheit. Die Gemeinde wird vielleicht auch ein wenig beschämt, weil ihr da ein sogenannter „psychisch Kranker“ etwas vormacht, zu dem sie, die vermeintlich „Normalen“, kaum bereit und in der Lage wären.
Viele Psychiatrieerfahrene fühlen sich in den „normalen“ pfarrgemeindlichen Gottesdiensten nicht wohl oder haben Angst unter so vielen Menschen. Einmal im Monat wird in Aachen deshalb freitags in einer Kirche ein Gruppengottesdienst mit Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen und Freunden gefeiert. Im Wechsel bereiten Teilnehmer/innen mit den Seelsorger/innen die Gottesdienste vor. Im Anschluss an den Gottesdienst wird das Zusammensein beim gemeinsamen Abendbrot fortgesetzt. Die Gemeinschaft wird so auf einer anderen Ebene fortgeführt; oft werden Verabredungen für gemeinsame Unternehmungen während des beginnenden Wochenendes getroffen.
Die Psychiatrieseelsorge verfügt mit der Liturgie über ein spezifisches Medium der Kommunikation. Bei psychisch Erkrankten sind oft Filter- und Abwehrmechanismen außer Kraft gesetzt und die Fähigkeit zur Strukturierung des eigenen Lebensalltags ist beeinträchtigt. „Den psychisch Kranken fehlen schützende Symbole und Rituale. Sie werden mitten im Alltag ohne Vorbereitung von 8 umstürzenden Erfahrungen überfallen.“9 Die Möglichkeit zur Mitfeier eines Gottesdienstes unter geschützten Rahmenbedingungen stellt aus pastoraler Sicht das Angebot eines durch Ritus und Symbolgeschehen strukturierten Raumes dar, innerhalb dessen eine für manche Betroffenen durchaus ambivalent erlebte Religiosität vorsichtig rückgebettet werden kann.
Die Teilnehmenden sind innerhalb dieses Geschehens zugleich Empfänger wie Gestalter. Im Ritus wird die oft einseitig pathologisierende Sicht auf psychisch Erkrankte aufgebrochen hin zu einem vieldimensionalen Erleben: wir alle sind – egal ob ‘krank’ oder ‘gesund’, ‘verrückt’ oder ‘normal’ – gleich in unserer gottebenbildlichen Würde; wir alle verfügen über individuelle Charismen und erfahren uns doch als begrenzt und in der ein oder anderen Weise verwundet; wir alle stehen unter Gottes Wort und bedürfen der Stärkung durch das Brot des Lebens. Eine besondere Rolle spielen Verabschiedungsgottesdienste und Beerdigungen. Wir werden angefragt, wenn keine Beziehungen zur Herkunfts- oder Wohngemeinde des / der Verstorbenen bestehen. Gerade nach Suizidhandlungen wird unsere Kompetenz dankbar in Anspruch genommen, ein beängstigendes Erlebnis einzubetten und zu deuten. Auf diese Feiern in Krisen- und Grenzsituationen werden wir noch nach Jahren angesprochen.
Glaube soll Hilfe zum Leben sein. Um dies erfahrbar zu machen, fahren wir mehrmals jährlich mit Psychiatrie-Erfahrenen zu „Tagen der Lebensorientierung“. Die Wochenenden sind teils für Bewohner/innen von Wohnheimen und -gruppen oder Tageskliniken reserviert, teils stadtweit offen ausgeschrieben. Wir als Seelsorger/in legen Wert darauf, dass jeweils ein oder zwei Mitarbeiter/innen von Einrichtungen mitfahren und mit uns die Tage vorbereiten. Inhaltlich stehen die Tage immer unter einem Leitgedanken. Zentrale wiederkehrende Elemente sind: Gebet und Meditation, Körper- und Entspannungsübungen, Gespräche in der Groß- und in Kleingruppen, Bibliodrama, Kreativarbeit, Gottesdienst. Gezielt fahren wir in Häuser, die von geistlichen Gemeinschaften geführt werden, um den speziellen Charakter dieser Tage zusätzlich zu betonen. Mit Angehörigen finden diese Tage in größeren Abständen als Wochenfahrten, z.B. nach Assisi, statt. Es geht hier vor allem um einen Beitrag zur Entlastung von Co-Betroffenen und zur Stützung eines sozialen Netzwerkes zwischen denen, die vor ähnlichen Fragen stehen. In zehn Jahren wurden mehr als 30 solcher Maßnahmen mit über 400 Teilnehmer/innen durchgeführt. Hier stellt die Kirche einen spezifischen Raum zur Verfügung, einen begleiteten Freiraum, eine Zeit des Tapetenwechsels und des verwöhnt Werdens, Tage der Selbstvergewisserung und Gemeinschaftserfahrung, Gelegenheit zum Austausch über Religiosität und Lebenssinn, Lernort des Glaubens. Aufgrund des Einbezugs hauptberuflicher Mitarbeiter/innen gemeindepsychiatrischer Einrichtungen ergibt sich eine verbreiterte Kommunikation und große Transparenz zu dieser Form der Arbeit mit Psychiatrie-Erfahrenen.
Das Jahresthema der Caritas 2002 gibt uns den Anlass, niedrigschwellig und möglichst offen zugänglich der Bevölkerung aus dem Großraum Aachen Initiativen, Selbsthilfegruppen, Einrichtungen und Dienste von und für psychisch Erkrankte beim „1. Aachener Psychiatrietag“ vorzustellen. In lockerer Atmosphäre sollen Interessierte sich informieren und kompetenten Gesprächspartner/innen aus Medizin, Therapie und Pflege, aber auch aus dem Kreis der Betroffenen und Angehörigen begegnen können. Unserer Einladung zur Beteiligung am Forum „mittendrin draußen: psychisch krank“ folgen nahezu vollständig alle relevanten Organisationen und Initiativen des gemeindepsychiatrischen Verbunds: ein Verein der Selbsthilfe Psychiatrieerfahrener, die Angehörigen-Selbsthilfe, das Psychiatrische Fachkrankenhaus der Alexianer-Brüder, die Kliniken für Kinder/Jugend- sowie Erwachsenen-Psychiatrie des Universitätsklinikums, der Trägerverein der Aachener Sozialpsychiatrischen Zentren, ein caritasverbandlicher Träger von Wohnheimen und – gruppen, Vereine der Arbeits-Rehabilitation, die Psychosoziale Beratungsstelle der Kommune, die Selbsthilfe-Kontaktstelle der Volkshochschule und die Betreuungsvereine der Verbände der Freien Wohlfahrt.
Als Veranstaltungsort wird die Citykirche St. Nikolaus gewählt, an deren Front ein von einem Psychiatrieerfahrenen gespraytes riesiges Veranstaltungsbanner die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich zieht. Im zentral in der Fußgängerzone liegenden Kirchenraum, dessen großes mit Parkettboden versehenes Mittelschiff multifunktional nutzbar ist, bauen die genannten Teilnehmer ihre phantasievoll gestalteten Infostände auf. Eine Buchhandlung bietet einschlägige Literatur an. Ein Teil der Kirche ist reserviert für eine Kunstausstellung Psychiatrieerfahrener. Neben guten Informationsbedingungen liegt uns vor allem daran, eine einladende und zum Verweilen anregende Atmosphäre zu schaffen. Daher gibt es ein gemütliches Café und die „Alex-Swing-Band“ sorgt für Stimmung. Weitere Programmpunkte der vierstündigen Veranstaltung sind ein Fachvortrag, eine Talkrunde, Mal- und Musikworkshops für Kinder und als Abschluss die Aufführung eines Schülerzirkus.
Den ganzen Freitagnachmittag über ist der Raum sehr gut gefüllt. Licht, Musik und Stimmung laden zum Bleiben ein. Viele intensive Gespräche mit Besuchern/innen entwickeln sich. Aufgrund der guten Resonanz sowohl der Besucher/innen wie der Mit-Veranstalter wird zwei Jahre später der „2. Aachener Psychiatrietag“ durchgeführt, ein dritter ist für 2007 in Planung. Das Projekt setzt, verstärkt durch die Berichterstattung in Presse, Lokalfunk und Lokalfernsehen, einen deutlichen Akzent gegen die Tabuisierung psychischer Erkrankungen in der Öffentlichkeit. Es führt viele Dienste, Einrichtungen und Initiativen des gemeindepsychiatrischen Verbunds in der Projektvorbereitung und -durchführung zusammen. Wo ansonsten oft der Kampf um „Marktanteile“ das Klima belastet, wird hier die für alle positive Erfahrung gemacht, gemeinsam etwas für alle Beteiligten Sinnvolles auf die Beine gestellt zu haben.
In Aachen bietet ein Selbsthilfe-Verein akut psychisch Erkrankten Patenschaften und Besuchsdienste an. Psychiatrie-Erfahrene, die stabil und belastbar sind, begleiten auf Zeit solche Menschen als Patin oder Pate, die entweder akut oder schwer chronisch krank sind. Der Verein ist nicht kirchlich gebunden. Dennoch hat er die Verbindung zur Kirche gesucht, indem er die ambulant tätigen Psychiatrieseelsorger um die Praxisbegleitung der Patinnen und Paten gebeten hat. Es ist Auftrag von Kirche, Menschen in ihrem solidarischen Engagement für Leidende zu unterstützen. Gerade Initiativen im Bereich der Selbsthilfe verdienen kirchliche Unterstützung, da hier Betroffene ihre Würde erfahren und ihre Ressourcen aktiv im Einsatz für andere einbringen.
Der Aachener Weg ist der „Anfang eines Anfangs“10. Die Psychiatrieseelsorge hat den geschützten Raum hinter den Klinikmauern verlassen. Sie erprobt neue Rollen: mal mehr Zuhörerin und Lernende, mal Deuterin oder Orientierende, dann wieder Vermittlerin oder Anwältin. Nie begegnet sie den Menschen jedoch unter der Leitpolarität „Gesundheit versus Krankheit“. Für die Psychiatrieseelsorge ist die Biographie des ihr begegnenden Menschen zunächst und zuerst Ausdruck seiner Geschöpflichkeit und somit ein prinzipiell theologiegenerativer Ort.
Dies verlangt die Bereitschaft, sich subjektiven und damit oft fremden Lebenswelten auszusetzen, die Lebenskontexte Betroffener nicht zu übergehen, vielmehr die Betroffenen als Experten/innen ihres Lebens ernst zunehmen. Also ist mit Unvorhergesehenem zu rechnen. Geduldig ist ein Umgang „auf Augenhöhe“ miteinander einzuüben. Nie dürfen wir dabei jedoch dem „Wahn“ erliegen, wir könnten das fundamentale Datum der uns im Anspruch des Anderen begegnenden Fremdheit einfach hin überspringen. Dann hätten wir uns des Anderen bemächtigt.
Wir lernen viel von den psychisch kranken Menschen – vor allem dies: „Die wechselseitige Gemeinschaft von Helfern/innen und Hilfsbedürftigen, von Gesunden und Kranken, konstituiert erst jene wahrhaft menschliche Gemeinschaft, wo sich die Rollen vertauschen dürfen und wo alle ihre Möglichkeiten nutzen dürfen und ihre Unmöglichkeiten nicht verdrängen müssen.“11 – jene Gemeinschaft, die „Leben in Fülle“ (Joh 10, 10) verheißt.
Zum Autor: Pott, Martin, Dr. theol., Pastoralreferent, Referent für Pastoralentwicklung im Bischöflichen Generalvikariat Aachen, Dozent für Pastoraltheologie am Interdiözesanen Studienhaus St. Lambert / Lantershofen; von 1996-2003 Leiter des Projekts „Integrierte Psychiatrieseelsorge Aachen“.
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