Interview mit dem Fotografen Rolf Georg Bitsch Interviewer Pfarrer Karl-Hermann Büsch*
Dezember 2004
K.-H. Büsch: Herr Bitsch, als Fotograph und Filmemacher liegt ein deutlicher Akzent ihrer Arbeit in der Begegnung mit behinderten Menschen. Das war nicht immer so.
R. Bitsch: Ja, das ist richtig. Ich habe mich in meiner fotographischen Tätigkeit immer mit Menschenfotographie auseinander gesetzt und hier insbesondere mit dem Schwerpunkt Begegnung. Erstmals taucht das Thema Behinderung 1997 in meiner Fotoausstellung „So Begegnung“ auf. Dieser Zeitraum 1996/97 ist dann auch in bestimmter Hinsicht eine besondere Wende in meinem Leben.
K.-H. Büsch: In einem anderen Zusammenhang haben Sie einmal gesagt, dass dieser von Ihnen angedeutete Veränderungsprozess 1996/97 eine Art Psychotherapie für Sie war.
R. Bitsch: Durchaus. Ich hatte in diesem Projekt „So Begegnung“ das Gefühl, das hier ein autotherapeutischer Prozess abläuft. Allerdings mit meinen ureigensten Werkzeugen. Mit den Mitteln und dem Instrumentarium der Fotographie.
K.-H. Büsch: Wieso kam Ihnen diese Ausstellung und die entsprechenden Vorarbeiten mit Menschen mit geistiger Behinderung so sehr nahe?
R. Bitsch: Das hängt mit meiner Biographie zusammen. Ich selber bin Bruder einer schwerstbehinderten Schwester und habe durch das Fotoprojekt ein Stück eigene Lebensgeschichte aufgearbeitet.
K.-H. Büsch: Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte hört sich nach Bewusstwerdung von möglicherweise verdrängten Lebensinhalten an.
R. Bitsch: Ja, ich knüpfe an diesen Begriff der Verdrängung an. Wenn ich also ehrlich bin, muss ich sehr in meiner Vergangenheit, in meinen Erinnerungen kramen, um mich überhaupt an Situationen im Detail erinnern zu können.
K.-H. Büsch: Dennoch war anlässlich der Vernissage die von Ihnen gemachte Äußerung der Versöhnung mit Ihrer Schwester für die vielen Teilnehmer sehr beeindruckend. Und ich denke, nicht von ungefähr hing in dieser Ausstellung in überdimensionaler Lebensgröße das Bild Ihrer Schwester Silvia.
R. Bitsch: Ja, dies ist natürlich kein Zufall, dass das Bild meiner Schwester da, wie Sie sagen, überdimensional groß hing. Es war für mich das zentrale Bild und den Begriff der Versöhnung finde ich in diesem Zusammenhang auch zutreffend. Ich habe mich mit dem Zustand versöhnt, dass meine schwerstbehinderte Schwester Silvia selber keine Verantwortung, keine Schuld an dem trägt, was damals in unserem Familiensystem, salopp gesprochen, falsch gelaufen ist.
K.-H. Büsch: Vermutlich hatten Sie als Kind und Jugendlicher unter dem, was da „falsch gelaufen“ ist, sehr gelitten.
R. Bitsch: Ja, ich war damals fünf, als Silvia geboren wurde und geburtsnah an einer Gehirnhautentzündung erkrankte. Für mich war es absolut nicht nachvollziehbar, dass von diesem Tag an unser ganzes Leben sich veränderte, vor allen Dingen meine Rolle in der Familie eine radikale Veränderung erfuhr. Vielleicht war es so, dass ich vorher das beliebte Prinzchen war, der geliebte kleine Junge, der Nachfahre der Familie. Auf einmal war da nur noch meine Schwester und alles drehte sich nur noch um sie. Ich denke, das habe ich nicht verstehen können. Damit war ich überfordert.
K.-H. Büsch: Sie deuteten an, dass einzelne Erinnerungen aus der frühen Kindheit Ihnen fehlen. Ab welchem Alter ist es Ihnen möglich, sich mit Ihrer Biographie konkret auseinander zu setzen.
R. Bitsch: Sagen wir mal so, als Neun- und Zehnjähriger in der Übergangsphase von der Grundschule zum Gymnasium, da ist ein bewussteres Denken, ein bewussteres Sein mir in Erinnerung. Und auch die Phase der Pubertät war eine sehr starke Zeit, wo ich mich mit mir und meinem Leben auseinander gesetzt habe, und da mir auch klar wurde, dass das etwas mit meiner Schwester Sylvia zu tun haben muss.
K.-H. Büsch: Würden Sie uns ein wenig an dieser persönlichen Auseinandersetzung teilhaben lassen?
R. Bitsch: In gewissen Grenzen mache ich das gerne, jedoch es ist schon ein sehr intimer Bereich, den ich nur hier und da beleuchten will. Im weitesten Sinne habe ich immer mit Beziehungsschwierigkeiten zu tun gehabt. Manche Beziehungsstrukturen um mich herum kamen mir sehr eigenartig vor und ich habe auch permanent mein eigenes Beziehungsgefüge überprüft und war mir oft nicht sicher, ob diese Beziehungen echt sind oder nur vorgegaukelt und ob nicht viel mehr gelogen wird.
K.-H. Büsch: Wurde von Ihnen auch erwartet, unabhängig von Ihrer eigenen Gefühlslage Zuneigung, Sorge, Behütung und Mitleid für Ihre Schwester zu zeigen?
R. Bitsch: Ja, das war so, dass da bestimmte Forderungen oder Erwartungshaltungen an mich gestellt wurden, denen ich einfach nur so zu entsprechen hatte. Beispielsweise gab es, daran erinnere ich mich jetzt, so die Haltung oder auch die Aussage meiner Mutter, ja, du bist ja gesund. Du wirst es schon schaffen. Du verfügst ja über Intelligenz. Woraufhin ich dann beschlossen habe, ach so, wenn ich nicht krank bin und über intellektuelle Fähigkeiten verfüge, dann kann ich mein Leben ja alleine regeln.
K.-H. Büsch: Dies war natürlich eine gehörige seelische Überforderung.
R. Bisch: Ja, das sehe ich jetzt aus dem Rückblick auch so. Damals habe ich das nicht so einordnen können und in der Pubertät flippen ja alle ein bisschen rum. Da war ich ja nicht der Einzige. Aber so in der Rückschau und in der Erfahrung, die ich gemacht habe, mit dem, was ich über mich gelernt habe, auch in therapeutischen Prozessen, denke ich, es war wirklich eine Überforderung, die ich als kleines Kind erlebt habe.
K. H. Büsch: Wir erwähnten ja bereits den Wendepunkt 1996 mit Beginn der Arbeiten für die Ausstellung „So Begegnung“. Zu diesem Zeitpunkt wollten und mussten Sie erneut wieder in unmittelbaren Kontakt treten mit Menschen mit Behinderung. Erinnern Sie sich heute an eine Schlüsselszene?
R. Bitsch: Ja, da gab es eine Schlüsselszene, die mich sehr beeindruckt hat. Und zwar wurde ein Gottesdienst unter freiem Himmel gefeiert und auch alle Menschen mit Behinderung sollten daran teilnehmen. Und da gab es einen jungen Mann mit Down-Syndrom, der sich gewehrt hat. Und keiner der Betreuer und keiner der anderen Teilnehmer hat es geschafft, ihn in den Kreis zu ziehen. Da bin ich aus so einer Naivität auf ihn zugegangen und war mir in dem Moment, als ich auf ihn zugegangen bin, gar nicht bewusst, dass es ein behinderter Mensch ist. Ich nahm ihn dann so bei der Hand und er ist mit in den Kreis gegangen. Und er hat mich dann wiederum in seine Arme genommen. Und das war für mich eine kleine Sensation.
K.-H. Büsch: War es vielleicht diese kleine Sensation, die Sie heute im Jahr 2004 nach wie vor mit der Kamera in die Arbeit mit diesen Menschen hineinzieht.
R. Bitsch: Ja, das kann man so sagen. Ich habe auch damals in der von lhnen zitierten Rede anlässlich der Vernissage gesagt, das dieses Projekt „So Begegnung“ von einer Vielzahl von kleinen inneren Explosionen begleitet war, die so für die Außenwelt nicht spürbar waren und diese kleinen Begegnungsexplosionen sind sicherlich auch das treibende Feuer für meine fotographischen und filmerischen Projekte des Menschen mit Behinderung.
K.-H. Büsch: Herr Bitsch, vielen Dank für dieses offene und sehr persönliche Gespräch.
* Der Interviewer ist Fachreferent der Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz, Köln
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