In der ersten Heftausgabe von „Behinderung & Pastoral“ (Dezember 2003) wurde dargelegt, welche Überlegungen und welche Wege in der gemeindlichen Arbeit dazu beigetragen haben, eine Integrative Gemeinde mit Hörgeschädigten in Köln aufzubauen. Im Heft 2 (Juni 2003) wurde der Fortgang dieser Entwicklung an den Beispielen der Sakramenten-Vorbereitung, Erstkommunion und Firmung sowie an der Gestaltung der Gottesdienste an Kar- und Osterfeiertagen deutlich gemacht. An dieser Stelle soll nun abschließend die Bedeutung des integrativen Sonntagsgottesdienstes aufgezeigt werden mit einem Fazit und Ausblick einer zeitgemäßen und heilsamen Seelsorge mit Hörgeschädigten in einer Integrativen Gemeinde.
Die Erfahrungen mit integrativen Gottesdiensten zu den „geprägten Zeiten“ (Advent und Fastenzeit) sowie zur „Heiligen Woche“ in St. Georg, Köln, zeigten, dass auch vermehrte und in unmittelbarer Folge stattfindende integrative Messfeiern möglich sind. Wir sahen, dass das Miteinander von Hörenden und Hörgeschädigten, das in der Primärfamilie meistens der Normalfall ist, nicht unbedingt verloren gehen muss: Das gemeinsame Feiern erlebnisorientiert gestalteter Gottesdienste schafft, wie sich an St. Georg herausstellte, erneut die Möglichkeit, dass Menschen mit und ohne Hörschädigung zusammen Wichtiges tun, froh sein und feiern können. Der Erlebnischarakter dieser Gottesdienste sprach sich bei Hörgeschädigten wie auch bei Hörenden, bei Erwachsenen wie auch bei Kindern schnell herum.
Als Folge der vorangegangenen Erfahrungen konnten wir bald den integrativen Sonntagsgottesdienst der hörenden und der hörgeschädigten Gemeinde folgen lassen. Äußerliches Merkmal ist als erstes, dass der reguläre Gemeindegottesdienst ganz in die religiöse Gebärdensprache übersetzt wird. Generell gilt dazu, dass (kirchen)- musikalische Gestaltungselemente für den Gottesdienst stärker in den Hintergrund treten. Während des gesamten Wortgottesdienstes spricht der Zelebrant mit Stimme, und die Mitarbeiterin übersetzt seine Rede in die Gebärdensprache. Um wichtige Gottesdiensttexte, z. B. die Schriftlesungen, besonders hervorzuheben, tritt inzwischen ein hörgeschädigter Übersetzer neben den lautsprachlichen Lektor. Für die hörgeschädigten Gottesdienstteilnehmer ist also ebenso ein Lektor oder eine Lektorin vorhanden wie für die hörenden auch.
Die besondere Bedeutung der Amtsgebete ist visuell wahrnehmbar, da der Zelebrant mit weit ausgebreiteten Armen (Orante-Haltung) diese Gebete lautsprachlich formuliert. Ihr Inhalt wird gleichzeitig in Gebärdensprache übersetzt. Mit Beginn der Gabenbereitung übernimmt der Zelebrant selbst die Übersetzung seiner lautsprachlichen Rede; bis über die Kommunionspendung hinaus wird der Gottesdienst von ihm jetzt zweisprachig geleitet. Hierzu bedient er sich lautsprachebegleitend einer Gebärdensprach- Mischform aus stark reduzierter LBG und DGS. Zu Schlussgebet und Segen steht wieder die visuelle Wahrnehmung des amtlichen Charakters dieser Gebete im Vordergrund. Daher redet der Zelebrant in Lautsprache, mit Orante-Haltung, und was er spricht, wird gleichzeitig in die Gebärdensprache übersetzt.
In der hörenden und hörgeschädigten Gemeinde St. Georg übernehmen sowohl hörende als auch hörgeschädigte Erwachsene und Kinder gottesdienstliche Funktionen: Bereits genannt wurde die Gebärdenlektorin. Hinzu kommen hörgeschädigte Messdiener und Messdienerinnen. Wenn ein Gebärdenchor eingesetzt wird oder wenn eine Pantomime die Verkündigung unterstreicht, so ist das für Hörgeschädigte nicht nur eine Verstärkung der Wahrnehmungsmöglichkeiten, sondern zusammen damit auch ein ästhetischer Gewinn. Für hörende Gottesdienstteilnehmer sind diese Elemente in erster Linie ästhetischer, gottesdienstgestalterischer Art. Entscheidend ist, dass in den Gottesdiensten Hörende und Hörgeschädigte miteinander gleichermaßen in Funktion wie auch in der Gottesdienstteilnahme nebeneinander präsent sind. Hiermit wächst die Erfahrung: Gehörlose haben Hörenden viel zu geben. Gehörlose sind nicht „arme, bedauernswerte Menschen“! Die Erfahrungen, die wir in der integrativen Gemeindearbeit in St. Georg machen konnten, haben uns gezeigt, dass die Gewöhnung an den gemeinsamen Gottesdienst entscheidend zur Normalisierung im Umgang von Hörenden und Hörgeschädigten beiträgt.
Wir haben die Entwicklung des Aufbaus einer integrativen Gemeindearbeit beobachtet, und wir haben erstaunt festgestellt:
Die tatsächliche Annäherung von hörenden und hörgeschädigten Menschen geschieht über die Gottesdienste und über die Gottesdienstgemeinde.
Diese Erkenntnis hat uns selbst verblüfft. Hörende und gehörlose Gemeinde nähern sich tatsächlich einander an: Nach und nach entstehen mehr gemeinsame Felder, gemeinsame Erlebnis- und Handlungsbereiche. Wir hatten gesehen, dass diese Annäherung ihren Ausgang beim Mütter-Kind-Kreis bzw. bei den Eltern und ihren Kindern nahm. Wir haben diesen ersten Vorgang dann nur wahrgenommen und aufgegriffen. Er war handlungsleitend für die Konzeptualisierung unserer integrativen Gemeindearbeit. Selbstverständlich ist es wahr: Nur ein begrenzter Teil von Erwachsenen und Kindern wird den Weg in die hörende bzw. Hörgeschädigtengemeinde finden. Aber von hier aus, von den Gottesdienstbesuchern aus, wirkt der Ruf der integrativen Gemeinde auch in die großen Kreise der nicht-gottesdienstbesuchenden Hörgeschädigten wie Hörenden hinein. Immerhin ist das Diözesanzentrum für Hörgeschädigte an St. Georg in Köln zugleich Treffpunkt der unterschiedlichsten, zahlreichen Gehörlosengruppen und -vereine. Nun ist es eine bekannte Eigenschaft der Hörgeschädigten, insbesondere der Gehörlosen, Informationen sehr schnell weiterzugeben (was seit Fax und e-mail noch erleichtert wird). Dieser Umstand wirkt maßgeblich mit an einer Netzwerk-Bildung zwischen Hörenden und Hörgeschädigten sowie unter den Hörgeschädigten selbst. Ein Multiplikationsgeschehen braucht also nicht eigens initiiert zu werden, es ist vielmehr im Persönlichkeitsbild und in den Gewohnheiten zumindest der Gehörlosen mit angelegt.
Die Darstellung der Entwicklung der integrativen Gemeinde St. Georg in Köln hat gezeigt, dass es möglich ist, als eine Gemeinde von hörgeschädigten und hörenden Christen zusammen Gottesdienst zu feiern und Gott zu loben. Es wurde zugleich deutlich, dass gerade die Gestaltung exponierter Gottesdienste auf die hörgeschädigte Zielgruppe hin auch für hörende Gottesdienstteilnehmer keine Einbuße, sondern vielmehr einen Zuwachs an Sinnlichkeit und Lebendigkeit bringt, was für beide Seiten einen Gewinn darstellt. Ferner wurde deutlich, wie Katechese für den Gottesdienst in Dienst genommen werden kann, auch dann, wenn sie nicht in ihn eingebaut wird (und die Gefahr mit sich bringt, diesen unter der Hand zu verschulen). Vielmehr kann Katechese z. B. in Gestalt eines Besinnungstages eingesetzt werden, so dass auch schwierige Texte, wie das Exsultet aus der Osternacht, für Hörgeschädigte erschlossen werden können. Und es zeigte sich ganz grundsätzlich, dass sich die intensive Vorbereitung und Gestaltung der Liturgie unserer Kirche lohnt und in reichem Maße auszahlt: Sie ist zutiefst gemeinschaftsstiftend und trägt dazu bei, dass Menschen miteinander Kontakt finden und ins Gespräch kommen, die ansonsten nie etwas miteinander zu tun hätten. So werden Fremde zu Freunden, zu Schwestern und Brüdern Christi, in dessen Namen sie sich gleichberechtigt und solidarisch versammeln. Schließlich erweist jede Liturgie, die zur größeren Ehre Gottes gefeiert wird, ihre gemeindebildende Qualität daran, wie es ihr gelingt, diese Gemeinschaft herzustellen.
Vieles ist damit zur integrativen Gemeinde hörender und hörgeschädigter Christen an St. Georg in Köln noch nicht gesagt. Zum Beispiel ist noch nicht gesagt, wann Kirchenvorstand und Pfarrgemeinderat sich aus beiden Gruppen zusammensetzen werden. Das Erstaunlichste für uns war die Erfahrung, dass integrative Gemeinde über die gemeinsame Gottesdienstfeier wächst und sich festigt. Grundlage war freilich die Erkenntnis, dass bereits die Primärfamilie fast eines jeden Gehörlosen das Muster integrativer Gemeinsamkeit erfahrbar macht und dass es möglich ist, diese Erfahrung lebendig zu halten und nicht verloren gehen zu lassen. Sie wurde zum Vorbild und Inbegriff integrativen Gemeindelebens an St. Georg. Noch einmal: dass sie im Gottesdienst wieder auftauchte und gerade dort so starke, gemeindebildende Kraft entfaltete, war für uns selbst erstaunlich. Im gemeinsamen Feiern von Pfarrfesten, Jubiläen, Neujahrsempfang, Pfarrcafé und zukünftig hoffentlich auch: Wallfahrt, Sommerfreizeit und Besinnungstagen ist das Bewusstsein lebendig: Wir sind als integrative Gemeinde eine (1) Familie. Und das ist kein „sentimentaler Kick“, sondern lebendig erfahrene Wirklichkeit, die, wie in der Primärfamilie, auch in späteren sozialen Konfigurationen Gestalt wird und trägt.
* Der Autor ist Leiter der Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz, Köln
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