Dezember 2002
In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts war die gesamte Pastoral in der katholischen Kirche von der Aufbruchstimmung des II. Vatikanischen Konzils (1962 – 1965) geprägt. Überall entstanden Auffassungen von einer Pastoral „mit“ Menschen; früher wurde Seelsorge mehr als eine Dienstleistung „für“ andere gedacht. Die Idee, dass in der Pastoral beide Seiten Gebende und Empfangende sind, hat bis auf den Tag besonders starke Auswirkungen gerade für den Bereich der Menschen, die mit einer Behinderung leben müssen. Diese Anmerkungen wollen zunächst einen Blick auf die Frage werfen, ob Menschen mit Behinderung eine spezielle Spiritualität leben, hieran schließen sich einige Gedanken zu einer zukünftigen Behinderten-Pastoral an.
Menschen die mit einer besonderen Behinderung leben, sind in ihrer Selbstwahrnehmung und in Folge dessen auch in ihrem Selbstbild durch diese Behinderung immer (mit-) geprägt. Sie erleben tagtäglich, dass sie bestimmte Aufgaben nicht oder nur mit besonderer Hilfe bewältigen können. Sie erleben unter Umständen, wie es ist, mit Schmerzen leben zu müssen, die auch durch Medikamente nicht vollends abzustellen sind. Sie erleben, wie sie mitunter darum ringen müssen, sich selbst, mit diesem Körper, mit der betreffenden Behinderung anzunehmen, ja zu lieben. Zu dieser mehr individuellen Perspektive kommt die kontextuelle hinzu, d.h.: Menschen in ihrer Umgebung begegnen ihnen mit Erstaunen, vielleicht mit Ablehnung, häufig zumindest mit Unsicherheit oder Genanz. So ist die Begegnung mit anderen Menschen allzu oft nicht der Anfang von Beziehung, sondern eher das Signal: Du bist anders! Wie soll ich mit dir umgehen? Du verunsicherst mich…. Nicht selten ist das Ergebnis, dass sich der Nichtbehinderte von dem Menschen mit Behinderung abwendet. Das Ergebnis stimmt bedenklich: Sowohl die Selbstwahrnehmung (individuelle Perspektive) als auch die Begegnungen mit Anderen (kontextuelle Perspektive) signalisiert den Menschen mit Behinderung zumindest: Ich bin anders, häufig aber auch: Mein Hauptmerkmal ist ein Defizit, ich bin nicht in Ordnung so, wie ich bin. Leider führt das zu dem Ergebnis, dass Menschen mit Behinderung in ihrer Selbstwahrnehmung wie auch in der ihnen begegnenden Reaktion der Außenwelt sich selbst häufig; bewusst oder unbewusst; als defizitär empfinden. So liegt es nahe, dass in Folge dessen ihr Menschenbild sich ebenfalls allzu häufig an den Defiziten orientiert. Nicht die Wahrnehmung der Behinderung ist das störende; störend und dem Menschenbild abträglich ist die Spezifizierung der Behinderung als Defizit. Menschen die keine eigene nennenswerte Behinderung haben, fällt es meistens schwer die Behinderung, die sie an einem anderen Menschen wahrnehmen so einzuordnen, dass sie nicht mit dieser Wahrnehmung den anderen abqualifizieren und letztlich entmündigen, sondern diese Behinderung zunächst einmal nur als wertfreies Faktum dahingestellt sein lassen.
Dieses Menschenbild, sowohl im Selbstverständnis des Menschen mit Behinderung als auch in der Wahrnehmung durch den Nichtbehinderten, ist zugleich Grundlage für die Spiritualität des Betreffenden. Ob mit oder ohne Behinderung: die Spiritualität eines Menschen ist nur auf dem Hintergrund des jeweiligen Menschenbildes zu verstehen. Und das bedeutet: die Spiritualität ist ebenso wie das ihr zugrundeliegende Menschenbild geprägt durch die individuelle Verfasstheit des betreffenden Menschen wie auch durch seine ihn umgebenden lebensweltlichen Realitäten. Ein Mensch, der z.B. durch seine Körperbehinderung mit erheblichen, also etwa motorischen Einschränkungen leben muss oder der durch eine Sinnesbehinderung, also vielleicht hochgradige Schwerhörigkeit beeinträchtigt ist und der sich tagein tagaus als hilfsbedürftig erfährt oder jemand, der ständig mit Schmerzen leben muss, prägt auf dieser Grundlage eine andere religiöse Praxis aus als jemand, der gesund, beweglich und beschwerdefrei im allgemeinen Sinne ist. Das Gottesbild eines in der beschriebenen Weise behinderten Menschen beschäftigt sich existenzieller und drängender mit der Frage: „Wie trete ich mit meiner Behinderung in Beziehung zu Gott?“ Er fragt vielleicht sogar verzweifelt: „Warum mutet Gott gerade mir diese Behinderung zu?“ Der Nichtbehinderte kann solche Fragen theoretischer angehen, er ist nicht in derselben Weise persönlich betroffen. Zur persönlichen, existenziellen Verfasstheit kommt der lebensweltliche Kontext des betreffenden Menschen hinzu: so wie bei jedem Menschen die realen Lebensumstände auch seine Gedanken über Gott, Glaube und Religion mitbestimmen, so ist es auch beim Menschen mit Behinderung: die Art und Weise, wie ein Mensch mit Behinderung Hilfe oder Ablehnung, Unterstützung oder Herabsetzung erfährt, prägt auch seine Vorstellung davon wie die Hilfe aussieht, die Gott den Menschen im allgemeinen und Menschen mit Behinderung im besonderen zukommen lässt. Die Art und Weise wie die Welt, in der ich lebe, mir meine Lebensmöglichkeiten gibt oder aber vorenthält, wird meine Einstellung zu Gott, der diese Welt geschaffen hat und sie erhält, entscheidend mitprägen. Ferner ist die Rede von Gottes freiem und gutem Geschöpf, ja von der Krone der Schöpfung: dem Menschen, bei behinderten und nichtbehinderten Menschen mit sehr unterschiedlichen Gefühlen und Lebenserfahrungen verbunden.
Die Notwendigkeit wird deutlich, von einer VersorgungsPastoral zu einer partnerschaftlichen Pastoral für Menschen mit Behinderung hinzufinden. Von der Orientierung am Defizit, die in großzügiger Weise von oben herab Trost und Hilfe spendet, muss die Pastoral zu einer Begegnung von behinderten und nichtbehinderten Menschen „auf Augenhöhe“ hinführen. Die Einstellung muss auf beiden Seiten so aussehen, dass jeder vom Anderen lernen und Gewinnbringendes empfangen kann. Auch hier ist die Unterscheidung nach existenziellen und kontextuellen Gesichtspunkten hilfreich: Eine Pastoral für Menschen mit Behinderung muss zunächst auf die Voraussetzungen schauen, die von einem Menschen mit Behinderung existenziell vorgegeben werden. Es darf nicht allzu schnell darüber hinweggegangen werden, dass dieser konkrete Mensch sich mit Einschränkungen, mit Verletzungen und mit Defiziten erlebt. Ein Fehler wäre nur, diese Wahrnehmung ständig zum Thema zu machen. Behinderung, Schmerz, tiefe Verletzung, Wut und Durchhaltewillen können unterschiedliche Voraussetzungen sein, mit denen ein Mensch mit Behinderung umgehen muss und die deswegen auch in einer Pastoral für Menschen mit Behinderung berücksichtigt werden sollen. Es ist jedoch genau und sorgfältig hinzusehen, inwieweit diese Themen fortwährend Gegenstand der Seelsorge sein müssen: Es erscheint angeraten, diese Selbstwahrnehmung von Menschen mit Behinderung zu erweitern, in dem Orte ehrlicher und erfüllender Begegnung angeboten werden. Ein gemeinsamer Ausflug, Mahlzeiten oder Freizeitgestaltung zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen versprechen mehr positive Erfahrungen als das ständige thematisieren und vertiefen von Defiziterfahrungen. Die Gleichstellung am Arbeitsplatz sowie im kulturellen Leben und in der Kirche kann neue Orte der „Begegnung auf Augenhöhe“ zwischen Behinderten und Nichtbehinderten schaffen. Damit soll nicht gesagt werden, dass Enttäuschung und Verletzungen einfach übergangen und mit ein wenig Fröhlichkeit beiseite gefegt werden sollen, durchaus nicht. Es gilt das rechte Maß zu finden, in dem so viel Raum für Klage und Problematik bleibt wie nötig, in dem aber auch soviel Raum für neue und positive Erfahrung ist wie möglich. Auf den zweiten Blick auf die kontextuellen Gesichtspunkte einer Behinderten-Pastoral wird das noch deutlicher: Menschen mit den unterschiedlichsten Formen von Behinderung brauchen auch sehr unterschiedliche Formen von Hilfe in vielen tagtäglichen Unternehmungen. Es sind wiederum die äußeren Lebensumstände, die sehr klar gesehen werden müssen; solche kontextuellen Gesichtspunkte aus dem Lebensumfeld von Menschen mit Behinderung müssen die Ansätze und die konkreten Möglichkeiten dieser Seelsorge bestimmen. Eine Muskeldystrophie oder Blindheit, Gehörlosigkeit oder beidseitige Beinamputation sind so verschiedenartige Behinderungsformen, dass sie unterschiedliche Voraussetzungen für die Möglichkeiten der Pastoral schaffen, so dass dazwischen jeweils Welten zu liegen scheinen. Die Vision einer adäquaten Seelsorge für Menschen mit Behinderung muss deswegen ebenso strikt nach existenziellen Gesichtspunkten der Behinderten selbst differenzieren wie nach kontextuellen Gesichtspunkten aus deren Lebensumfeld.
Ein paar Hinweise mögen hierzu genügen: Zuerst einmal darf Seelsorge nicht delegiert werden ans Finanzielle. Seelsorge braucht Geld, natürlich; Seelsorge darf sich aber nicht im Spendenverhalten erschöpfen. Ein Überweisungsvorgang durch die Bank ist noch keine seelsorgliche Maßnahme, auch wenn konkretes Geld für konkrete Bedürfnisse unverzichtbar ist. Es geht um den Menschen: Es geht um den Menschen mit Behinderung wie auch um denjenigen, der ohne Behinderung pastoral tätig ist. Ebenso wenig darf Seelsorge delegiert werden ans Institutionelle. Da kommt der Gedanke ganz gelegen: die Caritas macht das schon! Oder: dafür gibt’s ja die Nachsorgeeinrichtungen . . . . Hier gilt das Gleiche wie bei der Delegation ans Finanzielle: Essen auf Rädern ist noch keine menschliche Begegnung. Und der E-Rollstuhl ist eine Maschine und daher nicht zu einer personalen Beziehung fähig. Als drittes muss man hinzufügen: Seelsorge darf nicht delegiert werden ans Eschatologische. Der gut gemeinte Gedanke: „Behinderte kommen alle in den Himmel“, zeugt von einem Denken aus vergangenen Tagen. Mit diesem Denken wurde und wird leider immer noch persönliche Begegnung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung auf den SanktNimmerleins-Tag verschoben.
Was ist dann eine zeitgemäße Pastoral für Menschen mit Behinderung? Was sollte sie sein? Sie ist zum Beispiel: Kaffeetrinken. Jesus ging auch mit dem Zöllner zu ihm nach Hause, um bei ihm mit anderen Freunden zu essen und zu trinken. Damit gibt er dem Zöllner und seinen Freunden einen neuen, einen lebensräumlichen Impuls. Hier geschieht so etwas wie: „Heiligung des Alltags“. Darüber brauchen wir noch nicht in spirituelle Verzückung zu geraten, darüber sollten wir aber auch nicht hochnäsig hinwegschauen. Wenn Seelsorge Heiligung des Alltags sein kann, dann geschieht dies auch und besonders in vielen Formen von Gottesdiensten. Auch das sehen wir am Beispiel Jesu. Viele Begegnungen geschehen oder beginnen in der Synagoge, im Bethaus der Glaubensgemeinschaft. Wir sollten Menschen mit
Behinderung, auch wenn sie nicht allzu tief religiös oder kirchlich oder gottesdienstlich verwurzelt sind, das Geschehen unserer Liturgie nicht vorenthalten. Das symbolische Handeln in der Liturgie mit seiner Vielfalt der Gottesdienstformen ermöglicht auch eine Vielfalt von persönlichen Erlebnissen, in denen jeder individuell mit seiner Lebensgeschichte und mit seinen Voraussetzungen in Beziehung zu Gott treten kann. Seelsorge ist schließlich auch Caritas und Diakonie, d.h.: wechselseitige Sorge untereinander und füreinander. Gerade z.B. die Telefonketten innerhalb von Fraternitätsgruppen sind bester Ausdruck dieser letztlich doch seelsorgerischen Aktivität. Auch hier hilft das Beispiel Jesu. Er sagte: Ich war krank und ihr habt mich besucht. Ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Das Entscheidende ist; dass es Menschen gibt, die zu Besuch kommen und sich kümmern. Es ist sicher egal, ob die Seelsorge ihren Ansatz nimmt beim Kaffeetrinken, beim Gottesdienst oder beim Diakonischen. Entscheidend ist, dass jede Pastoral und besonders die für Menschen mit einer Behinderung als Begegnung von Mensch zu Mensch stattfindet. Pastoral muss Lebensräume eröffnen, das geschieht immer da, wo du und du sich auf Augenhöhe begegnen. Begegnung von Mensch zu Mensch aber nutzt real vorgegebenen Lebensraum, um dasjenige, was der Einzelne an Lebenserfahrung und Lebensschicksal individuell mitbringt, in diesem Raum dasein zu lassen. Und damit kann Seelsorge neuen Lebensraum und Raum für neue Lebens und Glaubenserfahrung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung stiften.
* Der Autor ist Leiter der Arbeitsstelle
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