Psychosoziale Umschau 04.2014 | 9
Von Cornelia Schäfer
Ist die Seele, die ja unsterblich sein soll, eigentlich dasselbe wie die Psyche, die, wenn sie krank ist, in der Psychiatrie behandelt wird? Diese Frage wurde neulich im Kölner Psychoseforum diskutiert, und die Antwort fiel schwer. Klar war nur, dass diejenigen, die sich seit gut 200 Jahren für die Psyche zuständig erklären, und jene, die sich seit Jahrhunderten um die Seelen sorgen, wenig miteinander zu tun haben.
Das Kölner Paulushaus bzw. das dort im ersten Stock untergebrachte Zentrum »Seelsorge & Begegnung für psychiatrieerfahrene Menschen« will diese Kluft überbrücken. Finanziert und getragen vom Erzbistum Köln, trägt es seit 15 Jahren das Thema psychische Erkrankungen in Kirchengemeinden und hilft auf der anderen Seite Psychiatrieprofis, achtsam mit den spirituellen Erfahrungen und Bedürfnissen ihrer Patientinnen und Patienten umzugehen. »Eine seelische Krise ist immer eine Grenzerfahrung, die Fragen aufbrechen lässt, und auch oftmals Fragen religiöser Art: Worauf kann ich hoffen, wo kann ich festmachen, wo finde ich Halt?«, sagt Karl-Hermann Büsch, der als katholischer Pfarrer die Seelsorge- und Begegnungsstätte leitet. Da ist es dann wenig hilfreich, wenn Pastoren und Gemeinden psychisch kranke Mitglieder aus Unsicherheit ausgrenzen oder wenn in der Psychiatrie Mitarbeiter abwinken, weil sie selbst schlechte Erfahrungen mit Kirche gemacht haben, überfordert sind oder wenn eine religiöse Erfahrung gar vorschnell als Krankheitssymptom abgetan wird. Wie groß das Bedürfnis von Menschen in psychischer Not ist, Grundfragen des Daseins mit anderen zu erörtern, erlebt Karl- Hermann Büsch seit dem Tag der Eröffnung der gastfreundlichen Etage. Das ökumenische Team bietet sowohl in Einzelgesprächen als auch in verschiedenen Gruppenveranstaltungen, in Wochenendseminaren und Gottesdiensten spirituelle Begleitung an, es hilft bei Sinnsuche und Lebensbewältigung und bietet zwanglos Gemeinschaft.
An diesem Sommernachmittag sind die Türen des Begegnungszentrums speziell für Gäste geöffnet, die zu dem offenen Gesprächskreis »Bibel teilen, Leben teilen, Brot teilen« kommen. Fünfzehn Männer und Frauen haben sich im frisch renovierten Veranstaltungssaal auf Stühlen um einen Blumenstrauß gruppiert. Zuerst bekommt jeder Gelegenheit, ein paar Worte zu seiner Person und augenblicklichen Gestimmtheit zu sagen. Dann geht es gemeinsam hinüber in die kleine Kappelle des Paulushauses. Das ist ein eher schlichter Raum, dem sparsam gesetzte künstlerische Akzente gleichwohl eine besondere Aura verleihen: Vor allem eine Holzskulptur, die ein Kreuz aus Licht hervorbringt, scheint zur inneren Sammlung aufzufordern. Nachdem Karl-Hermann Büsch zur Einstimmung ein paar Takte eines Stücks von Markus Stockhausen gespielt hat, liest der Pfarrer zwei Bibelstellen vor, die von Gottesworten und Samenkörnern handeln, die mal auf fruchtbaren Boden und mal auf felsigen Grund oder in Dornengestrüpp fallen. Das regt an zu allerlei Betrachtungen und Erinnerungen. Ein Mann betont, dass es dem freien Willen des Menschen unterliege, ob er sich Gottes Wort öffnen wolle oder nicht. Eine Frau schildert ihre Jahre in der Psychiatrie, in denen sie sich wie in einer Wüste gefühlt habe, wo nichts sie berühren konnte, bis schließlich die Klänge der Lieder im Gottesdienst ihr Herz erreichten und sie sich langsam wieder dem Leben zuwandte. Eine andere Frau meint, dass die Dornen vielleicht für das Leid stehen, aus dem, wenn man sich entsprechend bemüht, doch Sinn und Frucht erwachsen können. Und ein weiteres Mitglied der Runde schlägt vor, jeden Menschen als ein Zugleich aller Böden zu betrachten: als kargen unzugänglichen Felsen, fruchtbaren Boden und flüchtigen Sand. Während manche sich aufgefordert fühlen, darüber nachzudenken, wie sie sich so öffnen können, dass etwas Höheres in ihnen Wurzeln schlagen kann, finden andere, dass die Bibelworte vor allem Trost und Verheißung bringen: Wenn du auch nicht immer offen und bereit bist, so kannst du doch darauf vertrauen, dass Gottes Wort irgendwann Frucht und Heil bringt.
»Hier werden meine Fragen beantwortet und ich bekomme immer wieder Anregungen «, antwortet in der anschließenden Psychiatrie & Gemeinde | Psychosoziale Umschau 042014 | 9 Ein Ort, wo alles sein darf und angesprochen werden kann Das Kölner Paulushaus bietet Seelsorge und Begleitung für psychiatrieerfahrene Menschen Von Cornelia Schäfer Der Eingang des Paulushauses in Köln Foto: Cornelia Schäfer Runde bei Kaffee und Kuchen der Iraner Kamran auf die Frage, was ihn immer wieder ins Paulushaus zieht. »Es ist für mein Empfinden eine geistige Tafel, und jeder kann nehmen, was er braucht.«
Reich gedeckt ist der Tisch aber auch noch in anderer Hinsicht: Die Offenheit und Wertschätzung in der Begegnungsstätte gäben ihm selbst in der Krise ein gutes Gefühl, berichtet Kamran. »Hier werde ich so aufgenommen, wie ich bin. Ich finde eine Begegnung mit Menschen in vertrauter und freundlicher Atmosphäre und brauche mir keine Gedanken zu machen: Habe ich da einen Fehler gemacht oder nicht? Selbst wenn es mir eigentlich schlecht geht –, sobald ich hier hereinkomme, fühle ich mich wohl.«
Regine erzählt, dass sie nach ihrem Klinikaufenthalt eine lange Zeit beinahe täglich ins Paulushaus kam, um Halt zu finden. Heute komme sie nur noch zu ausgewählten Veranstaltungen, um sich selbst in Ruhe und gesammelt begegnen zu können. »Mit Freude komme ich, und mit Freude gehe ich. Das, was ich hier erfahre, ist wie ein Licht, das den Herzensbereich erleuchtet.«
Rolf möchte sich der Kirche nach seinem Austritt vor vielen Jahren nun wieder annähern und ist froh, dass er im Paulushaus seine Psychiatrie-Erfahrung nicht zu verstecken braucht. »Hier kann ich einfach als Mensch hinkommen, über meine Lebenssituation und meine Erfahrungen reden, um dann in einem zweiten Schritt mein individuelles religiöses Interesse anzusprechen.« Dorothee hat dank des Begegnungszentrums ihre Depressionen überwinden können. »Ich habe lange und verzweifelt nach Jesus gesucht und bin viele Irrwege gegangen. Das war auch der Nährboden für meine Depression. Hier jetzt habe ich das Gefühl, angekommen zu sein, angenommen zu sein. Und dass sich Jesu Versprechen erfüllt: Wer mich aufrichtig sucht, von dem lasse ich mich finden.«
Die dunklen Erfahrungen mit Glauben und Glaubensgemeinschaften, die bei Dorothee anklingen, greift Pfarrer Büsch auf: »Religiöse Erfahrung kann ja das heilsam empfundene Teilnehmen am Licht und der Weite sein, aber auch ein Erschrecken und Zurückweichen vor einer höheren Macht, das Erleben von Schuld, die Angst vor einem strengen Gott, das qualvolle Empfinden, verdammt zu sein. Und das ist das Gute z.B. an unserem Angebot, Bibel zu teilen, dass wir hier auch Geschichten zusammen lesen und besprechen, die dieses Erschreckende und Dunkle thematisieren und wo man sich ganz konkret auch mit seiner Angst, Verzweiflung oder Wut wiederfinden kann. Zum Beispiel das Buch Hiob, wo es heißt: ›Ich verfluche den Tag, wo du mich in dieses Leben geschickt hast.‹ Eine Erfahrung, mit der sich die Menschen hier oft ganz stark identifizieren. Und indem das alles sein darf und angesprochen werden kann, kann es auch in den Alltag integriert werden.«
Und was, wenn ein Aussprache Suchender aus seinem psychotischen Erleben heraus glaubt, ein von Gott Auserwählter mit einem Auftrag zu sein? Pfarrer Karl-Hermann Büsch, seit vielen Jahren auch Seelsorger in psychiatrischen Kliniken, weiß sehr genau, dass es nichts bringt, einen Menschen in einer Psychose davon überzeugen zu wollen, dass sein Erleben Wahn ist. Wer will das auch so genau wissen? »In dem Augenblick kann man nur eine Beziehungsbrücke bauen.« Reicht die Überzeugung des Betreffenden dann über die Psychose hinaus, gilt es in Gesprächen auf seine Erdung hinzuarbeiten. »Schon die spirituellen Lehrer der Vergangenheit, etwa die Wüstenväter, haben gesagt: ›Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, woher das kommt. Sondern Maßstab ist, wie du im Alltag bist. Wenn du im Alltag spülen kannst und deine Pflichten erfüllst und wenn es eine Kraft ist, dann ist es eine Gotteserfahrung. Wenn es dich aber weghebt und für den Alltag untauglich macht, dann ist es höchstwahrscheinlich eine bedenkliche andere Erfahrung.‹«
Manchmal braucht es Jahre, um Ängste in Vertrauen zu wandeln, um vielleicht eine Größenfantasie verzichtbar zu machen oder persönliche Dämonen zu besiegen. Das seelsorgerische Gespräch hilft dabei und überhaupt die kontinuierliche Begleitung über lange Zeit, aber genauso auch das Erleben von Gemeinschaft im Paulushaus und das praktische Tun in Singkreisen, Theatergruppen, Bewegungsmeditationen und Kreativworkshops.
Andreas z.B. hat nach dreißig Jahren kreativer Abstinenz das Malen wiederentdeckt: »Neben den spirituellen Angeboten wie Gespräche, Gesprächskreise, Qigong und Ähnlichem, das mich nährt, war für mich ganz wichtig, dass ich wieder an meine Ressourcen herankomme. So habe ich mein Talent zu malen wiedergefunden. Und das Gute ist, dass es hier nicht lehrerhaft abläuft und einem groß was beigebracht werden soll, sondern: Jeder kann malen. Und auf einmal kommt alles so hervor. Und so erleb ich das auch in anderen Gruppen und Angeboten: dass da Raum ist für das, was in uns steckt.« Ist so verstandene Seelsorge am Ende die bessere Psychiatrie?
»Psychiatrie reduziert eigentlich eher«, findet Christoph. »Und spirituelle Fragen und Erfahrungen werden dort oft beargwöhnt. Hier dagegen geht es um das Mensch – sein. Und das ist etwas, was übrigens nicht nur psychisch kranken Menschen oder Menschen in der Krise guttut.« Wie Pfarrer Büsch wollen die meisten Gesprächskreisteilnehmer aber lieber keine wertenden Vergleiche anstellen. »Man braucht beides: die medizinische Versorgung, Krankenhäuser und Ärzte und auf der anderen Seite aber auch die Seelsorge«, sagt Rainer.
Und vielleicht gibt es ja auch längst psychiatrische Kliniken, Zentren oder Heime, die Gedichte auf ihre Homepage stellen, wie jenes, das Annegrete F. in der Schreibwerkstatt über das Paulushaus verfasst hat:
»Du bist das Haus, in dem ich sein darf. Du bist der Raum, der mich aushält. Du bist die Ruhe, in der ich zu mir selber finde. In dir gibt es Menschen. In dir gibt es Verstehen. In dir möchte ich bleiben.«
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