Birgitta Daniels-Nieswand
Der Wegweiser | Pfarrbrief evangelische Kirchengemeinde Köln-Klettenberg
Februar – März 2015
„Eigentlich habe ich mich entschieden. Für das Leben. Eigentlich ist mein Glaube allgegenwärtig. Eigentlich weiß ich: Das Leben ist ein Geschenk. Und doch gibt es Momente, in denen ich dich nicht spüren kann, Gott. In denen ich an deiner Nähe zweifle. In denen ich an mir selbst zweifle. Meine Gefühle quälen mich. Ich möchte sie nicht mehr spüren. Ich möchte gar nichts mehr. Auch nicht nachdenken. Verzweiflung stürzt mich in die Krise. Ein Ventil habe ich, aber es ist nicht gesund. Und dennoch: es gibt Momente, in denen brauche ich dieses Ventil nicht, weil ich ein anderes habe. Es sind die Momente, Gott, in denen ich mir sicher bin: Du bist da.“ (M.R.)
Dieses Gebet einer jungen Frau, die ich seit einigen Jahren als Seelsorgerin begleite, erzählt eine Menge über das anstrengende Gefühlschaos im Leiden an ihrer Sucht, doch es erzählt vor allen Dingen von der Kraft ihres Glaubens! Menschen, die in unterschiedlichste Abhängigkeiten hineingeraten sind, erleben sich als zutiefst allein, leiden oft unter dem Verlust ihrer sozialen Bindungen, der sozialen Identität und vor allem ihrer Selbstachtung. Ihre Suche nach Anerkennung und persönlicher Wertschätzung wird immer mehr durch den gesteigerten Konsum des Suchtfaktors kompensiert und erhöht dadurch die gesellschaftliche Ausgrenzung und die eigene persönliche Abwertung. Ein Teufelskreis.
In zahlreichen vielfältigsten Therapiemöglichkeiten wird Menschen mit Suchterkrankung Hilfestellung gegeben, aus diesem Teufelskreis herauszukommen und die Krisen zu bewältigen. Das Einüben von Achtsamkeit und die Entdeckung von längst vergessenen Fähigkeiten sind dabei wichtige Ressourcen. Auch der Glaube kann für die Psyche des Menschen ein stärkender und stabilisierender Faktor sein.
Die junge Frau erzählt, wann ihr Suchtdruck auszuhalten ist: „Wenn ich nicht alleine bin in meiner Not, wenn ich spüren kann: da ist jemand, der an mich glaubt und mich gutheißt.“ Ich kenne Menschen, die in ihrer psychischen Not eine große spirituelle Sehnsucht haben nach einem Halt in all ihrer inneren und äußeren Zerrissenheit, die mit großer Offenheit echte Begegnungen wagen und die ihren Glauben als tröstend und beziehungsstiftend erleben – dann, wenn sich dies auf einen Glauben an einen barmherzigen Gott gründet. Die Zusage unseres Gottes, der jedem Menschen Wert und Würde zuspricht (Jes. 43), das Handeln Jesu, der Menschen vom Rand der Gesellschaft wieder in die Mitte stellt und ihnen Mut und Hoffnung schenkt (u.a. Mk. 3,1) – dies sind heilsame und ermutigende Bilder für Menschen, die die Zerbrechlichkeit ihres Daseins sehr schmerzhaft erfahren.
Für Menschen, die diesen Gott mit dunklen, Schuld zuweisenden und erschreckenden Erfahrungen verbinden, können Gespräche manchmal eine veränderte Sichtweise ermöglichen und helfen, sich von krankmachenden Gottesbildern zu distanzieren und zu verabschieden. Dabei erlebe ich im Laufe der Jahre, dass gerade die Verbindlichkeit der Beziehungen, die wir als Seelsorgende anbieten, ein großes Vertrauen ermöglicht – im Aushalten von Rückfällen und im unermüdlichen Zuspruch der Botschaft unseres Gottes, der ein Gott des Lebens ist, der sein Da-Sein und Mitgehen zugesagt hat und von dem im Psalm 18 geschrieben steht: „Du führst mich hinaus ins Weite, du machst meine Finsternis hell.“
Eigentlich können wir all unsere „verbeulten“ Lebensgeschichten vertrauensvoll vor Gott bringen – und in gegenseitiger Wertschätzung erleben, dass Glaube im Miteinander wachsen kann.
Birgitta Daniels-Nieswand ist katholische Seelsorgerin an der LVR-Klinik Merheim
PDF ansehen →